Wenn man über Sexualmedizin spricht, muss man tatsächlich erst einmal klären, was alles dazu gehört. Sie wird weder an der Uni, noch in der Facharztausbildung gelehrt. Studenten hören keine einzige Vorlesung zum Thema während ihres Medizinstudiums. Auch in der Facharztausbildung in der , zum Hausarzt, zum Internisten oder Urologen findet Sexualmedizin überhaupt nicht statt. Dabei handelt es sich um einen sehr großen Bereich der Medizin.
Wenn ich in mein einschlägiges, tausendseitiges Buch zur Sexualmedizin aus dem Urban/Fischer Verlag schaue, zeigt sich sofort das riesige Themenspektrum: Kulturgeschichte der Sexualmedizin, sexuelle Funktionsstörungen von Mann und Frau, Beratung und Behandlung bei sexuellen Funktionsstörungen, Geschlechtsidentitätsstörungen, Sexualdelinquenz, Paraphilien, sexuelle Traumatisierung, krankheitsbedingte Sexualstörungen, beispielsweise die erektile Dysfunktion nach Prostata-Op, Sexualerziehung, , Probleme bei Unfruchtbarkeit, …das Themenspektrum ist schier unendlich.
Der Hausarzt ist der Vertrauensarzt für die meisten Patienten. Er ist der erste Ansprechpartner für alle möglichen gesundheitlichen Dinge und hat eine Lotsenfunktion. Er hat den Überblick über die Medikation der Patienten – er sollte also im Idealfall den ganzen Menschen mit seinen Erkrankungen sehen. Schon deswegen muss er unbedingt Kompetenz in sexualmedizinischen Fragen haben. Denn all die oben aufgezählten Dinge können beim Hausarzt als Fragestellung landen. Und es wäre sehr wünschenswert, wenn er damit grundsätzlich umgehen oder die Patientin kompetent weiterleiten könnte.
Leider ist diese Kompetenz bei ganz, ganz wenigen Hausärzten vorhanden. Ich bin in der Uniklinik Freiburg in der Vollausbildung für die Zusatzbezeichnung engagiert und bin auch Prüferin an der Landesärztekammer für die Zusatzbezeichnung Sexualmedizin – und ich sehe, wen wir prüfen. Und das sind fast nur Gynäkologen. Jetzt kommt langsam der eine oder andere Urologe um die Ecke. Aber Hausärzte – Fehlanzeige. Ich habe noch keinen einzigen geprüft.
Die Zusatzbezeichnung dauert berufsbegleitend drei Jahre. Und es muss nicht jeder die Zusatzbezeichnung machen. Es gibt auch niederschwellige Angebote. Beispielsweise bin ich auch Leiterin der AG Sexualmedizin für Frauenärzte – und wir haben schon vor 13 Jahren ein Konzept aufgelegt für Gynäkologen, das wir “Basiskompetenz für Sexualmedizin” genannt haben. Das sind zwei Wochenendkurse, wo wir die Shortlist der Sexualmedizin für den Gynäkologen vermitteln. Das bedeutet: Ich habe immerhin mal etwas von Sexualmedizin gehört, ich weiß, worauf ich achten kann. Das bringt im Medizineralltag schon weiter. Und so etwas könnte jeder interessierte Arzt einmal machen. Für Kollegen anderer Fächer müsste man natürlich ein anderes Curriculum erfinden — aber das sollte kein Problem sein.
Im Moment ist es noch so, dass es selbst für interessierte Fachkollegen nicht leicht ist, Basiskompetenzen zu erreichen. Denn der Arzt ist auch nur ein Mensch. Der hat sechs Jahre hardcore Medizin studiert, dann hat er fünf Jahre gemacht, mit Wochenend- und Nachtdiensten. Dann ist er endlich in der Praxis angekommen, ist überflutet von Bürokratie und Patientenversorgung. Und dann soll er sich noch für eine Weiterbildung anmelden. Welche Berufsgruppe macht das schon so? Der Hausarzt muss überdies noch regelmäßig seine Notfallkurse und seine EKG-Kurse auffrischen – und ein Privatleben hat er natürlich auch.
Mit anderen Worten: Es bedeutet ein extremes Engagement, Patienten auch im Bereich Sexualmedizin zur Seite zu stehen. Dennoch wünsche ich mir, dass mehr Hausärzte sich in Sexualmedizin weiterbilden. Wünschen kann man sich ja erstmal alles, auch wenn es Widerstände gibt.
Es bleibt dabei, dass es allen Facharztrichtungen gut zu Gesicht stehen würde, auch die Auswirkungen einer Erkrankung des jeweiligen Fachgebietes auf die Sexualmedizin projizieren zu können. Das ist ein wichtiges Faktum – völlig unabhängig davon, wie schwierig das umzusetzen wäre. Ich sehe aber auch, dass man dafür ein spezifisches Interesse braucht. Wir Ärzte wollen ja der Vertrauenspartner unseres Patienten sein. Und deswegen sollten wir den Anspruch an uns selbst haben, dass wir in vielen Bereichen etwas dazu sagen können, was den Patienten betrifft. Also sollte der Hausarzt auf dem Schirm haben: Dieser Blutdrucksenker oder jenes Medikament kann einen Libidoverlust auslösen, kann eine erektile Dysfunktion begünstigen. Er muss es nicht behandeln können, aber er sollte die Zusammenhänge kennen und eine kompetente Fachperson einbeziehen können. Gerade bei Psychopharmaka gibt es häufig Auswirkungen auf das Sexualleben der Patienten. Das muss angesprochen werden. Das ist dann sofort entlastend, ohne dass man eine große Intervention startet.
Man kann es ganz einfach so sagen: Sexualität muss in der Medizin immer mitgedacht werden. Im Moment ist es eher so, dass Sexualität ausgeblendet wird. Aber wir müssen sie einblenden! Und wir müssen unsere Patienten in diesem Kontext aktiv befragen, weil sexuelle Gesundheit ein wichtiges Gut für den Menschen ist – sie hat Auswirkungen auf das Wohlbefinden, auf Partnerschaft, auf Bindung. Wir Ärzte müssen lernen, das in der Anamnese anzusprechen. Wenn wir das tun, folgen uns die Patienten. Wir müssen es so normal wie möglich tun, auch Vorbild sein, indem wir völlig natürlich davon ausgehen, dass Menschen bis ins hohe Alter sexuell aktiv sind.
Selbstverständlich haben auch Ärzte unterschiedliche Einstellungen zur Sexualität. Sexualanamnese hat deswegen auch immer viel mit einem selbst zu tun.
Wie dem auch sei: Sex ist in der Medizin immer ein Thema, selbst der Herzchirurg, der eine neue Klappe einbaut und meint, der Patient soll sich schonen, muss sagen: Herr XY, sobald sie zwei Stockwerke mühelos hochlaufen können, können Sie auch wieder Sex haben – mehr an kardialer Belastung ist ein Sexakt nicht, wenn Sie nicht gerade zu einer besonders aufregenden Prostituierten mit wilden Praktiken gehen. Auch der Neurologe muss bei einer MS-Patientin wissen: Was macht das mit der Sensibilität im Genitalbereich? Das können wir überall durchdeklinieren. Da Medizin immer besser wird, beispielsweise in der und die Menschen immer länger Krankheiten überleben, geht es auch zunehmend um die Qualität des Überlebens. Wir wollen den Brustkrebs nicht nur überleben, wir wollen auch gut leben. Und dazu gehört für die meisten Menschen auch eine erfüllende Körperlichkeit. Immerhin gibt es jetzt neuerdings Fortbildungsformate in Sexualmedizin für Psychologen und Psychotherapeuten. Das wurde aber auch Zeit! Und im kleinen Rahmen habe ich auch schon Vorträge vor Hausärzten gehalten – die Rückmeldungen waren immer begeistert. Das ist ein Anfang, immerhin.
Mein Mantra bleibt: Wir können die Sexualität nicht aus medizinischen Fachrichtungen jenseits der Gynäkologie herauslösen. Und mein Aufruf lautet: Liebe Kolleginnen und Kollegen, öffnet euch dem Thema Sexualität!