Organspende: Wie schwer ist es, wenn Angehörige entscheiden müssen?

Dr. Ebru Yildiz ist beim Thema Organspende für die so genannte Widerspruchslösung. In ihrer Kolumne erklärt sie, welche praktischen Erfahrungen zu ihrer Überzeugung geführt haben.

Widerspruchslösung und ethische Bedenken

Es gibt die Debatte, dass Personen, die Entscheidungen zur Organspende nicht treffen, sanktioniert werden können. Und ich sage ganz klar: Das geht gar nicht! Ich sage auch: Um Geld darf es beim Thema Organspende nicht gehen. Das ist ethisch nicht vertretbar.

Dennoch bin ich dafür, dass jeder seine Entscheidung dokumentiert. Wie kann das klappen? Wir, die Ärzte, müssen viel mehr aufklären über Organspende und Organtransplantationen. Wir müssen das Vertrauen der Menschen gewinnen. Darin sehe ich eine ehrenamtliche Aufgabe von uns Ärzten. Wir müssen viel mehr darüber sprechen. Dafür brauchen wir Medien, Patienten, die transplantiert wurden und die auf ein Organ warten, die darüber berichten, wie es ihnen geht. Zum Beispiel hat ein Patient von uns seine Geschichte auf Social Media geteilt. Er heißt @Fitdad_Hendrik. Da erfährt man, dass wir mit der Lebertransplantation nicht nur ihm ein Leben geschenkt haben, sondern auch seiner Ehefrau und seinen fünf Kindern. 

Wir brauchen auch die Angehörigen, die für ihre Verstorbenen über eine Organspende entschieden haben. Dafür habe ich die Kampagne #RuhrEntscheidetSich initiiert. Dort sprechen Testimonials authentisch darüber, wie sie für Angehörige entscheiden mussten. Jürgen, ein Vater, kommt zu Wort, der für Jemina, die Tochter, entscheiden musste. Er kannte die Entscheidung, obwohl sie nicht dokumentiert war. Auch Tanja, eine Mutter, deren Sohn Nico verstorben war, berichtet. Sie und die Schwester des Verstorbenen, Kristin, beschreiben, wie schwer es war, die  richtige Entscheidung zu finden, denn sie kannten die Gedanken ihres Angehörigen dazu nicht. Heute sagt die Mutter, dass sie es gut findet, sich für eine Organspende entschlossen zu haben. Aber es bleibe das unangenehme Gefühl, nicht zu wissen, was ihr Sohn gewollt hätte.

Aufklärung und Vertrauensaufbau

Für uns Ärzte ist es schwer, in dem Moment, da ein Patient stirbt, mit den Eltern, Kindern, den Familienangehörigen über Organspende zu sprechen. Das ist eine schwierige Situation für uns alle. Ich sage den Angehörigen dann: "Ich gehe hier raus und trage diesen Moment vielleicht zwei Wochen mit mir. Sie leben mit ihrer Entscheidung!" Ich mache niemals Druck in die eine oder andere Richtung. Ich akzeptiere jede Entscheidung, obwohl ich mir natürlich mehr Organe wünsche, die Leben retten können. Am allerbesten ist es natürlich, wenn der Wunsch des Verstorbenen klar dokumentiert ist. Deswegen bin ich auch zufrieden, wenn ein aktives Nein vorliegt. 

Natürlich haben wir die Gesprächsführung trainiert. Und es gibt auch Unterstützung von der Deutschen Stiftung Organtransplantation. Wir haben auf jeder Intensivstation ärztliche Transplantationsbeauftragte. Ich erinnere mich, dass ich als stellvertretende Transplantationsbeauftragte das Gespräch mit den Angehörigen selbst nie führen musste. Als ich dann diesen Job übernommen habe, musste ich auch diese Gespräche übernehmen. Ich hatte das Curriculum zur Transplantationsbeauftragten schon mehrmals durchlaufen, samt  entsprechendem Kurs zur Gesprächsführung über Organspende - sogar mit richtigen Schauspielern als Gegenüber. 

Die persönliche Ebene

Doch in der Praxis merkte ich schnell, wie schwer das trotz aller Vorbereitung ist. Darum habe ich angefangen, mich in die Situation des Gegenübers zu versetzen. Ich überlegte mir, ob ich wohl wüsste, was ich sagen würde, wenn in meiner nahen Umgebung jemand sterben würde. Bei den meisten Erwachsenen wusste ich es. Aber wir denken bei diesem Thema immer nur an die Erwachsenen. Es geht aber durchaus auch um Kinder. Und da müssen die Eltern grundsätzlich die Entscheidung treffen. Erst mit 14 Jahren darf man dagegen und mit 16 dafür oder dagegen entscheiden. Als ich an meine eigenen Kinder dachte, wurde es selbst für mich sehr schwierig. Denn es war klar, wenn ich am Ende zu einem Nein zur Organspende käme, könnte ich diesen Job nicht machen. Und obwohl ich den inneren Druck hatte, Ja sagen zu wollen, hat es mich zweieinhalb Wochen gekostet, bis ich wirklich wusste, was ich machen würde. Diesen Leidensdruck erleben die Angehörigen am Bett ihres Verstorbenen. Und sie haben nicht zweieinhalb Wochen Zeit für ihre Entscheidung. Wir versuchen daher, Raum für die Entscheidung zu geben, das kann auch mehrere Tage dauern. 

Die Bedeutung der guten Information

Aus all diesen Gründen ist es sehr, sehr wichtig, dass jeder für sich in Ruhe und gut aufgeklärt diese Entscheidung fällt. Jeder möchte doch über seinen Körper bestimmen. Und die Frage der Organspende gehört unbedingt dazu. Ich hoffe, dass sich die Menschen durch eine geplante Widerspruchslösung viel bewusster mit dem Thema auseinandersetzen. Ich bin wie viele andere dafür, dass jeder, der eine Organspende nicht explizit ausschließt und dokumentiert, als Spender in Frage kommt. Wenn das gelten würde, würden sich ganz bestimmt sehr viel mehr Menschen mit dem Thema auseinandersetzen und eine klare Entscheidung für sich treffen. Ihren Angehörigen würde das eine enorme Bürde abnehmen. Und vielleicht würde auch die Zahl der Spenden steigen. Aber das müsste noch evaluiert werden.

Aktuell haben wir die Zustimmungslösug. Die besagt, dass jeder, der spenden möchte, einen Organspendeausweis hinterlegen oder bei sich führen muss. Meiner Meinung nach führt das dazu, dass viele über dieses schwierige Thema gar nicht nachdenken. Die Politik streitet seit Jahren über die beste Lösung. Eine befriedigende Antwort, die für alle richtig ist, scheint vorerst nicht in Sicht.

Kurzbiographie Ebru Yildiz

Dr. med. Ebru Yildiz leitet seit 2019 das Westdeutsche Zentrum für Organtransplantation in Essen. Die Fachärztin für Innere Medizin und Nephrologie hat Zusatzweiterbildungen in der Transplantationmedizin und der internistischen Intensivmedizin.