Nachdem ich an einer WDR-Doku über Frauen in der Universitätsmedizin mitgewirkt habe, machte ich eine denkwürdige Erfahrung: Im vom WDR sehr gut moderierten Instagram-Chat hieß es: Das sind doch Luxusprobleme, ob Frauen als Mutter Karriere in der Medizin machen können. Die verdienen ja genug und können sich Nannys leisten. Die Väter sollen zu Hause mehr machen. Und: Warum kriegen die überhaupt Kinder?! Das sind alles Rabenmütter! Bitte? Was ist das denn für ein gestriges Denken? Meine jüngere Kollegin und ich haben den Chat dann verlassen, weil uns das zu nahe ging.
Ich möchte gern die Leute zum Nachdenken bringen. Es stimmt schon: In Teilzeit verdiene ich mehr als eine Kindergärtnerin. Natürlich habe ich mehr Spielraum als andere. Dennoch ist das Thema, Karriere in der Medizin mit Familie zu vereinbaren, so einfach nicht abzutun. Schauen wir auf ein paar Zahlen: Am Start im Studium haben wir 70 Prozent Frauenanteil, das wird nicht nur an unserer Fakultät so sein. Ab der Doktorarbeit holen die Männer auf. Beim Facharzt und beim Oberarzt gibt es einen deutlichen Cut zwischen den Geschlechtern zu Ungunsten der Frauen. Sodass die Männer bei 90 Prozent der Berufungen zum Professor landen. Wenn ich das sehe, kriege ich mich gar nicht mehr ein. Was passiert in den 20 Jahren zwischen Studienbeginn und eventueller Professur? Die Frauen gehen karrieretechnisch komplett unter.
Ein Vorurteil lautet: Frauen wollen gar nicht an die Spitze. Das ist Quatsch - die kurzsichtigste Ausrede überhaupt! Ich denke, viele haben einfach nicht den Mut, sich höchste Ziele zu setzen. Wir müssen uns ständig rechtfertigen, wenn wir Kinder haben, arbeiten wollen und sogar noch eine Forschungskarriere anstreben, auf Meetings oder Kongresse gehen möchten. Ich erinnere mich an zahllose Gespräche, bei denen mir ungefragt gesagt wurde: Du kannst ja nicht so oft weg sein, du hast ja Kinder. Ja klar, ich liebe sie und ich bin gern mit ihnen zusammen. Aber wenn ich jetzt auf dieses Meeting nicht gehe, werden die entscheidenden Dinge wieder ohne mich besprochen.
Wenn sich in der Medizin nichts ändert, werden wir nicht nur einen eklatanten, sondern einen gruseligen Ärztemangel bekommen. Wir brauchen die Frauen!
Aber wenn die Kita wegen Personalnot plötzlich um 14 Uhr schließt, muss die Klinikärztin alles fallen lassen und anderen ihren Dienst übergeben. Der Chef traut dieser Kollegin dann zwischen 30 und 40 Jahren null Zusatzkompetenz zu. Und genau in dieser Zeit geht eigentlich die Klinik-Karriere voran. Wenn da die Frauen rausgenommen werden, dann sind die weg! Dann sind die raus! Übrigens sehr zur Freude mancher Männer - denn Frauen sind einfach gut! Es tut manchmal richtig weh, zu sehen, wer da alles in der ersten Reihe sitzt und die Geschicke lenkt und wer weiter hinten sitzt und trotz toller Ausbildung und Erfahrung einfach nicht mehr gefragt wird. Immer mehr Studien zeigen, dass es bei Ops durch Frauen weniger Komplikationen gibt. Manche Patientinnen sagen direkt: Ich möchte, dass mich eine Frau operiert.
Junge Frauen starten mit enorm viel Elan und mit dem ersten Kind zerbröseln alle ihre Ziele komplett. Schwangere werden beispielsweise per sofort vom Dienst in der Uniklinik freigestellt. Wenn Sie zurückkommen, sind sie ausgebremst, von Kollegen überholt, müssen sich neu hineinfinden. Und Vorgesetzte sagen: Sie müssen wissen, was Sie wollen. Forschung mit 50 Prozent Anstellung geht nicht.
Das ist kein rein individuelles Problem, sondern ein gesellschaftliches. Es kann ja nicht sein, dass wir 70 Prozent Frauen in der Medizin ausbilden, die dann in Teilzeitjobs verschwinden. Daher kommt doch dieser Ärztemangel, über den alle lautstark klagen. Wir stellen immer noch super ausgebildete Frauen an den Herd. Und die haben dann auch noch ein schlechtes Gewissen, wenn sie überhaupt arbeiten oder sogar irgendwelche Karriereziele haben. Es würde mich interessieren, ob das in anderen Branchen auch so ist.
Ein Einblick in die Pharmabranche beispielsweise zeigt mir, dass es dort in großen Firmen überhaupt kein Problem ist, Frauen in der Karriere zu unterstützen. Da geht Home Office und vieles mehr.
Ich habe drei Kinder. Und mein Mann ist Oberarzt, so wie ich. Wir teilen die Familienarbeit. Außerdem hatten wir sehr viel Support aus der Familie und der Nachbarschaft. Insofern ist alles gut gelaufen. Mein ältester Sohn hat gerade ein tolles Abitur gemacht, er möchte Medizin studieren. Er fühlt sich inspiriert durch seine Eltern, nicht vernachlässigt. Ich wünsche ihm, dass er die Erfüllung, die ich in der Medizin gefunden habe, auch erleben darf.
Also: Natürlich geht beides - Kinder und Medizin-Karriere! Ich möchte, dass die jungen Kolleginnen sich mehr zutrauen als meine Generation. Sie dürfen und sie müssen forscher sein, als wir es waren. Ihnen gehört mehr vom Kuchen. Und daher mein Appell an die Gesellschaft: Leute, ändert euer Mindset! Sonst werdet ihr demnächst gar nicht mehr behandelt werden! Wir können auf die Frauenpower in der Medizin - und auch sonst nirgendwo - verzichten.
PD Dr. med. Irina Blumenstein ist Fachärztin für Innere Medizin mit den Schwerpunkten Gastroenterologie und Ernährungsmedizin. Seit 2015 ist sie als Oberärztin in der Medizinischen Klinik 1 der Goethe-Universität Frankfurt am Main tätig, die auf Gastroenterologie, Hepatologie, Pneumologie und Allergologie spezialisiert ist. Sie leitet sowohl die CED-Hochschulambulanz als auch die CED-Studienambulanz.