Arzt und Patient, eine Beziehung in der Krise

Die Arzt-Patienten-Beziehung befindet sich seit Jahren in einer Krise. Wir sprachen mit Prof. Fabrizio Asioli über dieses Thema.

Arzt, Patient, Beziehungkrise

Übersetzt aus dem Italienischen

Die sozialen Netzwerke und die COVID-19-Pandemie sind in chronologischer Reihenfolge die letzten Elemente, die zur Verschärfung dieser Krise beigetragen haben. Die Impfgegner-Bewegung und die Verbreitung der so genannten "Alternativen Medizin" sind die natürlichen Folgen einer leidenden Arzt-Patienten-Beziehung, die nicht mehr auf Eckpfeilern wie Vertrauen in die Ärztin oder Arzt und Wissen seitens der Patientin oder des Patienten beruht. Um dieses Thema zu erörtern, haben wir uns mit Prof. Fabrizio Asioli, Psychiater und Psychotherapeut und Autor des italienischen Buches "La relazione di cura - Difficoltà e crisi del rapporto medico-paziente" (Die Pflegebeziehung - Schwierigkeiten und Krisen in der Arzt-Patienten-Beziehung), getroffen.

esanum: In Ihrem Buch beschreiben Sie die Krise der Arzt-Patienten-Beziehung. Kurz gesagt, wie ernst ist diese Krise?

Asioli: Es gibt viele Ursachen, die zu dieser Krise führen. Einige sind subjektiv, wie z. B. einzelne Ärzte, die nicht sehr geduldig sind und sich nicht genügend Zeit für ihre Patienten nehmen. Andere sind objektiv, strukturell. In meinem Buch versuche ich die These zu untermauern, dass die gegenwärtige Krise der Arzt-Patienten-Beziehung auf eine strukturelle Veränderung zurückzuführen ist, die paradoxerweise mit einer positiven Tatsache in der Geschichte der Medizin zusammenhängt. Ich beziehe mich dabei auf die große Entwicklung, die die Medizin in den letzten fünfzig Jahren genommen hat. Diese enorme Entwicklung hatte Auswirkungen, die das Arzt-Patienten-Verhältnis erheblich erschwert haben.

Zum einen haben sich Spezialisierungen und Hochspezialisierungen herausgebildet, die zu einer Fragmentierung des Patienten und seines Körpers geführt haben. Heute ist es schwer vorstellbar, dass ein Arzt alles weiß, jeder kennt sein Spezialgebiet, und das ist auch verständlich. Der Hepatologe interessiert sich für die Leber, der Kardiologe für das Herz und so weiter. Der Patient nimmt diese Zersplitterung wahr und oft gibt es keinen Arzt, der die Beziehung zum Patienten im Griff hat. Der Allgemeinmediziner, der für diese Aufgabe zuständig sein sollte, wird oft unterschätzt. Der Patient hat den Eindruck, dass die Bedeutung der Person aus den Augen verloren wurde, das heißt, dass sich das Interesse der Medizin heute mehr an den einzelnen Organen als an der Person orientiert.

Die zweite große positive Veränderung besteht darin, dass die der Medizin heute zur Verfügung stehenden Diagnoseinstrumente außergewöhnlich sind und es uns ermöglichen, den Körper des Patienten im Detail zu betrachten. Sie haben die manuellen Fähigkeiten der Symptomatologie (auch Semiologie genannt), des Abtastens und der Auskultation ersetzt. Aber mit ihnen verschwand auch die beruhigende Kraft der Hände, Menschen zu berühren. Der Medizinhistoriker Edward Shorter verweist auf das Paradoxon, dass sich die Patienten weniger umsorgt fühlten, als die Medizin begann, sich besser um sie zu kümmern.

Bessere Behandlungen, eine größere Verfügbarkeit von Medikamenten und mehr auf Krankheiten ausgerichtete Therapiestrategien gingen einher mit einer Distanzierung der Ärzte vom "Menschen", der vor dem "Patienten" steht. Natürlich leidet der Patient unter dieser Verringerung der Präsenz des Arztes, was sich in einem Vertrauensverlust in den Arzt und in die Medizin niederschlägt.

esanum: Glauben Sie, dass sich Maßnahmen abzeichnen, um dieser Krise entgegenzuwirken und sie zu überwinden, wenn auch in nicht allzu naher Zukunft?

Asioli: In dieser Hinsicht bin ich recht pessimistisch, denn im Allgemeinen ist das Bewusstsein für diese Krise gering. Vor Jahren habe ich eine Umfrage unter Kollegen in der Emilia Romagna (Italien) durchgeführt und die Ergebnisse zeigten deutlich, dass sich die Ärzte des Problems nicht bewusst waren. Einige von ihnen leugneten sogar eine Krise in der Beziehung zwischen Ärzten und Patienten. Heute leugnet wahrscheinlich niemand mehr die Krise. Viele Ärzte spielen sie jedoch herunter und benennen Ursachen, die in Wirklichkeit Auswirkungen eines Prozesses sind, den sie nicht verstehen.

Richtig ist, dass es heute wenig Zeit für zu viele Patienten gibt. Es stimmt, dass die Patienten heute anspruchsvoller sind, zu anspruchsvoll, manchmal unhöflich. Es stimmt, dass die Verbreitung des Internets die Rolle des Arztes verändert hat, der oft nur noch ein Berater der zweiten Ebene ist, da der Patient, wenn er in die Praxis kommt, bereits eine Vorstellung davon hat, was er hat und wie er behandelt werden sollte. Das ist alles richtig, aber ohne ein Bewusstsein für das Problem in seiner Gesamtheit, für die kulturellen, sozialen und wissenschaftlichen Veränderungen, die ihm zugrunde liegen, gibt es keine Möglichkeit, Lösungen zu finden.

esanum: Welchen Einfluss hat die COVID-19-Pandemie auf diese Pflegebeziehung?

Asioli: Die Pandemie hat sicherlich Auswirkungen auf die Beziehung zwischen Arzt und Patient, und zwar auf widersprüchliche Weise. Zweifellos gibt es auch positive Auswirkungen. Wenn man zum Beispiel sieht, wie sich Ärzte in Krankenhäusern um kritische Patienten auf der Intensivstation kümmern, hat sich das gesellschaftliche Bild der Medizin verbessert. Die Ärzte, wie auch alle anderen Angehörigen der Gesundheitsberufe, wurden dafür sehr geschätzt. Andere Folgen waren weniger positiv. Ein Beispiel dafür ist das Impfgegner-Phänomen, das den völligen Mangel an Vertrauen in die Medizin und die Angehörigen der Gesundheitsberufe am deutlichsten zum Ausdruck bringt.

esanum: Glauben Sie, dass die Auswirkungen der Pandemie bei den Hausärzt:innen anders sind als bei den Krankenhausärzt:innen?

Asioli: Die Auswirkungen sind bei allen Ärzten zu spüren, aber was die Beziehung zwischen Arzt und Patient betrifft, sind sie meiner Meinung nach bei den Hausärzten, das heißt, den Allgemeinmedizinern und den Kinderärzten, stärker ausgeprägt. Ich bin der Meinung, dass der Allgemeinmediziner (und der Kinderarzt für die Jüngeren) der zentrale Dreh- und Angelpunkt eines jeden hochwertigen Gesundheitssystems sein sollte. Dies ist beispielsweise in den angelsächsischen Ländern bereits der Fall, wo die Hausärzte die Basis des Systems bilden. In Italien ist dies heute nicht der Fall, diese Figur ist nicht mehr so zentral. Meiner Meinung nach ergibt sich diese wichtige Rolle gerade aus der Möglichkeit, eine privilegierte Beziehung zum Patienten aufzubauen, die erhebliche (und heute messbare) Auswirkungen auf den Behandlungsprozess haben kann.

Der Allgemeinmediziner und der Kinderarzt haben einen strukturellen Vorteil gegenüber den Fachärzten: Sie kennen die Patienten, sie begleiten sie nicht nur während einer Krankheitsepisode, sondern während ihres gesamten Lebens, und das macht sie im Allgemeinen des Vertrauens der Patienten würdig. Der Facharzt, der den Patienten oft höchstens ein paar Mal sieht, ist zwar der Wertschätzung des Patienten würdig, aber es gibt keine Basis für ein Vertrauensverhältnis. Deshalb hat sich die Pandemie, die Besprechungen, Besuche oder den Praxisalltag verhindert hat, bei den Fachärzten stärker auf das Arzt-Patienten-Verhältnis ausgewirkt als bei den Allgemeinmedizinern.

esanum: Die Pandemie hat die Entwicklung der Telemedizin in mehreren Ländern beschleunigt. Wie passt die Telemedizin - nicht nur die Möglichkeit, Besuche über ein elektronisches Gerät aus der Ferne zu machen, sondern beispielsweise auch den klinischen Zustand über von Patient:innen getragene Geräte aus der Ferne zu überwachen - in die Beziehung zwischen Ärzt:innen und Patient:innen?

Asioli: Die Telemedizin ist eine hervorragende technologische Möglichkeit, Symptome zu überwachen, Daten zu sammeln und sogar mit pharmakologischen Korrekturen einzugreifen. Wenn diese Operationen jedoch nicht zu einer Synthese in der Beziehung zwischen Arzt und Patient führen, dann befürchte ich, dass diese Technologie Ärzte und Patienten noch mehr entfremden wird. Wir werden immer leistungsfähigere und wirksamere Technologien haben, aber wenn sie die Beziehung zu einem Betreuer, zu jemandem, der sich um diese Person kümmert, ersetzen, werden die Entfremdungen meiner Meinung nach zunehmen. Ich denke, es ist sehr schwierig, über Therapie außerhalb der Beziehung zwischen Arzt und Patient zu sprechen. Man kann über pharmakologische Behandlung sprechen, aber nicht über Therapie.

esanum: Während dieser Pandemie haben wir in den sozialen Netzwerken die Ausbreitung von Gruppen beobachtet, die sich gegenseitig helfen und um Informationen, aber auch um Diagnosen und Behandlungen bitten und Listen von Medikamenten mit unbestimmter Wirkung austauschen. Offenbar gibt es in einigen dieser Gruppen Ärzte:innen, die per Chat Ratschläge erteilen und Medikamente verschreiben. Glauben Sie angesichts Ihrer Erfahrungen und Studien, dass eine Ärztin oder ein Arzt jemanden behandeln kann, den er nicht kennt? Und wie können Patient:innen jemandem vertrauen, den sie nicht kennt?

Asioli: Ich bin der Meinung, dass Selbsthilfegruppen, auch die Online-Gruppen, ein großes Potenzial haben. Ich halte es für gut, dass Patienten mit einer bestimmten Krankheit miteinander in Kontakt treten und ihre persönlichen Erfahrungen austauschen können. Sie stellen ein Netz der Solidarität dar, an dem man sich festhalten kann, insbesondere in schwierigen Situationen. Aber Selbsthilfegruppen sollten nicht zu Selbstpflegegruppen werden. Daran kann ich nichts Sinnvolles erkennen.

Eine Therapie durchzuführen ist eine hohe Kunst, eine sehr komplizierte Kunst, die man nicht mit einer Liste von Medikamenten für alle trivialisieren kann. Therapie ist auch das Verabreichen und Einnehmen von Medikamenten, aber nicht nur das. Es geht um das Verabreichen von Worten und Nähe. Die Betreuung eines Patienten umfasst zwei Handlungen, die selbst für uns Ärzte nicht immer ausreichend klar sind. Der erste Akt ist der der Behandlung, aber vor der Behandlung ist es notwendig, den Patienten in der Krise zu beruhigen, weil er vielleicht eine schwere Krankheit hat. Vor den Untersuchungen, vor den Medikamenten muss sich der Patient nicht allein fühlen, sondern er muss wissen, dass er jemanden in seiner Nähe hat, zu dem er volles Vertrauen haben kann und der ihm hilft, diese Situation zu überwinden. Die Pflege hat diese doppelte Bedeutung, die bei jeder Art von Problemen innerhalb einer Beziehung zwischen demjenigen, der Pflege braucht und demjenigen, der sie zu geben bereit ist, erhalten bleibt. Außerhalb dieses Kontextes, nämlich der therapeutischen Beziehung, kann es keine Therapie geben. Man kann nicht jemanden behandeln, den man nicht kennt, man kann nicht von jemandem behandelt werden, den man nicht kennt. Eine Anamnese per Chat und eine Liste von Medikamenten reichen nicht aus.

Die Arzt-Patienten-Beziehung war in den letzten 4.000 Jahren der Geschichte in allen Kulturen, in allen Ländern, in allen Formen der Medizin zentral und selbst therapeutisch. Die Nähe eines kompetenten Menschen, der uns hoffentlich helfen kann wenn wir medizinische Hilfe brauchen, ist ein zentraler Wert der Therapie, auch heute noch.

esanum: Wie wirkt sich die ständige Präsenz von Ärzt:innen im Fernsehen, in Zeitungen und in den sozialen Medien auf die Beziehung zwischen Ärzt:innen und Patient:innen aus?

Asioli: Die Antwort auf diese Frage kann nicht eindeutig sein. Vereinfacht kann man sagen, dass es zwei Kategorien von Kollegen gibt, die im Fernsehen, in Zeitungen und in sozialen Netzwerken präsent sind und immer wieder auftauchen. Es gibt eine Kategorie von Kollegen, deren Hauptzweck darin besteht, zu informieren. Es ist nicht falsch der Öffentlichkeit Informationen zu geben, aber man muss lernen wie man bestimmte Informationen einem großen und heterogenen Publikum vermittelt. Ein kompetenter Arzt, der in der Lage ist zu kommunizieren, stärkt das gesellschaftliche Image der Medizin.

Andere hingegen verfolgen andere Ziele und scheinen ins Fernsehen zu gehen, um zu glänzen, zu argumentieren, zu erscheinen. Sie tragen dazu bei, das Bild einer gespaltenen, innerlich zerrissenen Medizin zu vermitteln. Es liegt auf der Hand, dass dies schlecht für die Arzt-Patienten-Beziehung ist, weil es zu einer Entfremdung zwischen Medizin, Ärzten und Patienten beiträgt.

esanum: Wer trägt die größte Verantwortung für die derzeitige Vertrauenskrise gegenüber Ärzt:innen?

Asioli: In gewisser Weise sind alle Ärzte dafür verantwortlich, dass sich eine gewisse Anzahl von Menschen von der Medizin abwendet. Subjektiv betrachtet, in der eigenen Praxis oder in der eigenen Abteilung, durch das eigene individuelle Handeln, trägt jeder einen Teil der Verantwortung. Aus kollektiver Sicht liegt die eigentliche Verantwortung darin, dass wir die unglaubliche Entwicklung der Medizin in den letzten Jahrzehnten nicht begreifen konnten, dass wir nicht in der Lage waren, uns in irgendeiner Weise bewusst zu machen, dass sich die Medizin verändert und vom Patienten wegbewegt. Dass wir dieses Bewusstsein nicht hatten, hat uns bis heute daran gehindert, den Schaden zu begrenzen. Es gibt zwar subjektive Verantwortlichkeiten, aber das Problem ist größer und muss angegangen werden.

esanum: In Ihrem Buch "Die Pflegebeziehung" sprechen Sie von der Notwendigkeit, Ärzt:innen speziell für die therapeutische Beziehung auszubilden, für die Beziehungsbedürfnisse der Patient:innen, dafür, wie man sie befriedigt. Angenommen, diese spezielle Ausbildung wird durchgeführt, würde sie ausreichen, um die Krise in der Arzt-Patienten-Beziehung zu überwinden?

Asioli: Nein, ich glaube nicht, dass sie ausreicht, aber sie könnte sicherlich helfen, einen ersten Schritt zu tun. Wir könnten damit beginnen, Fähigkeiten zu vermitteln, dem Patienten mehr Aufmerksamkeit zu schenken als der Krankheit. Nehmen wir als Beispiel die Onkologie, eine Disziplin, die enorme Fortschritte macht und die sich im Laufe der Jahre von einem Fachgebiet, das fast immer eine Diagnose mit negativer Prognose stellte, zu einem Fachgebiet entwickelt hat, das viele Patienten heilen kann. Die Onkologie hat sich in Bezug auf therapeutische und präventive Maßnahmen außerordentlich gut entwickelt, aber es gibt keine medizinische Fakultät, in der neben der Konzentration auf Medikamente und Frühdiagnose dem Patienten, seinen psychologischen Reaktionen auf die Krebsdiagnose und den zu ergreifenden Maßnahmen zur Unterstützung seiner Notlage die gleiche Aufmerksamkeit geschenkt wird.

Es könnte auch gelehrt werden eine breite Sichtweise der Therapie zu haben, die nicht nur aus Pillen besteht, sondern sehr stark von der Beziehungsfähigkeit des Arztes abhängt, davon, dem Patienten nahe zu sein und ihn zu beruhigen. Was Balint in seinem Buch "Der Arzt, sein Patient und die Krankheit" (1961) schrieb, ist immer noch gültig: In der Diskussion stellte sich bald heraus, dass die bei weitem am meisten genutzte Medizin in der Allgemeinmedizin der Arzt selbst ist, dass also nicht nur die Medikamentenflasche oder die Pillenschachtel zählt, sondern auch die Art und Weise, wie der Arzt seinem Patienten das Medikament anbietet, ja die ganze Atmosphäre, in der das Medikament gegeben und eingenommen wird.1

Die Ärzte müssen lernen sich selbst als "Medizin" zu verabreichen, denn sie wissen im Allgemeinen nicht wie das geht. Sie versäumen es daher diesen mächtigen therapeutischen Faktor, der durch ihre Beziehungsfähigkeit gegeben ist, zu nutzen, wenn sie es tun.

esanum: Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Beziehungsfähigkeit der Ärtzin oder des Arztes zu den Patient:innen und dem Risiko eines Burnouts?

Asioli: Ich glaube, wenn der Arzt die Fähigkeit erwirbt, sich selbst als Medizin zu verabreichen, ist er in der Lage eine größere Befriedigung aus der potenziellen beruflichen Erschöpfung zu ziehen. Das würde natürlich das Risiko eines Burnouts verringern, das nicht nur durch körperliche Ermüdung, sondern auch auf psychologischer Ebene durch Unzufriedenheit mit der geleisteten Arbeit verursacht wird. Diese Fähigkeit des Arztes, sich von der Sorge um die Person zu erholen, könnte ein Element sein, welches das Risiko eines Burnouts einschränkt.

Anmerkung: 1. Anmerkung der Redaktion: Kein direktes Zitat aus dem Buch.