Eiskalt erwischt – Mit Appendizitis im antarktischen Eis

Leonid Rogosow reist 1960 in die Antarktis. Einige Monate später zeigt er Symptome einer Blinddarmentzündung. Das Problem: Er ist der einzige Arzt weit und breit.

Eine folgenschwere Reise in die Antarktis

Übersetzt aus dem Französischen

Moskau, 1955

Das Internationale Geophysikalische Jahr (1957) rückt näher. Sowjetische Wissenschaftler wollen mit der Untersuchung der physikalischen Eigenschaften der Erde die Spitzenposition in der Forschung einnehmen. Der Kreml beschließ daher, Polarstationen in der Antarktis einzurichten, um dort Studien in den Bereichen Geomagnetismus, Glaziologie, Meteorologie und Seismologie durchzuführen.

Leningrad, 1960

Fünf Jahre später bricht der 26-jährige Medizinstudent Leonid Iwanowitsch Rogosow in Leningrad seine Dissertation über Viszeralchirurgie ab. Er entscheidet sich für eine der sechs Polarbasen, die einige Jahre zuvor eingerichtet worden waren.

Es ist die Nowolasarewskaja-Basis im Königin-Maud-Land. Die Station liegt etwa 100 km von der Küste entfernt mitten im Nirgendwo und bietet Platz für ein Dutzend Forscher.

Als Rogosow am 5. Dezember dort ankommt, wird ihm schlagartig klar, dass sein Aufenthalt alles andere als ein Spaziergang werden wird. Mit seiner ständigen Dunkelheit und den heftigen Schneestürmen hat der Polarwinter bereits begonnen und die kleine Gruppe von der Außenwelt abgeschnitten. Die nächstgelegene Küste ist die von Südafrika. Diese ist aber mehr als 2.000 Kilometer entfernt.

Die Monotonie des Alltags erinnert oft an das Leben an Bord eines U-Bootes. Dabei hat jedoch jeder in der Gruppe mehrere Rollen zu übernehmen. Rogosow ist der einzige Arzt. Er kümmert sich aber auch um die Wetteraufzeichnungen, und manchmal, wenn die Bedingungen ein Verlassen der Basis erlauben, fährt er auch die Fahrzeuge der Forscher. In der restlichen freien Zeit beschäftigt sich jeder so gut er kann.

Die gute Nachricht: Rogosow wird sich nicht mehr lange langweilen müssen. Die schlechte Nachricht: Langeweile kann auch ihre positiven Seiten haben.

Wie hundert Schakale

Am 29. April 1961 befällt Rogosow plötzliche Übelkeit und seine Körpertemperatur steigt rasch an. Schließlich setzt ein charakteristischer Schmerz im Unterleib ein. Als Assistenzarzt der Viszeralchirurgie erkennt er diesen sofort: "Es scheint, dass ich eine Blinddarmentzündung habe," schreibt er an diesem Tag in sein Tagebuch. "Ich versuche, ruhig zu bleiben und sogar ein wenig zu lächeln. Warum soll ich meine Freunde beunruhigen? Wer könnte mir hier schon helfen?"

Niemand würde kommen können. Das Schiff, das sie nach 36 Tagen auf See an der Küste abgesetzt hat, wird erst im nächsten Jahr zurückkehren. Und ein Flugzeug? Kein Pilot wäre in der Lage, mitten im Schneesturm auf dem Packeis zu landen. Also wird es weder einen weiteren Arzt noch einen Rücktransport geben.

Die Eisbeutel, die Rogosow sich auf den Bauch legt, und die Antibiotika, die er sich verabreicht, helfen nichts. Nach einer Nacht, die er nahezu ausschließlich mit Erbrechen verbracht hat, macht der junge Arzt am Morgen des 30. April gar keinen guten Eindruck:

"Ich habe überhaupt nicht geschlafen (...). Es tut höllisch weh! Mir ist, als peitschte mich ein Schneesturm mit einem Heulen wie von hundert Schakalen. Noch sind keine offensichtlichen Symptome einer bevorstehenden Perforation erkennbar. Aber mich beschleicht eine böse Vorahnung."


Niemand in der Basis hat auch nur im Ansatz die Fähigkeit, Rogosow operieren zu können. Da es offenbar keine Behandlungsmöglichkeit gibt, sind die Folgen kaum absehbar. Der Arzt notiert in sein Tagebuch: "Die einzige Lösung ist, mich selbst zu operieren."

Vom Schlafzimmer zur Notaufnahme

Glücklicherweise sind die Forscher und Freunde Rogosows sehr einfallsreich, auch wenn sie als Chirurgen etwa so hilfreich sind wie die Pinguine vor Ort. Unter der Anleitung des Patienten, der zwischen zwei Erbrechen Anweisungen gibt, verwandeln sie ein Zimmer der Basis in einen Operationssaal: ein Bett, zwei Tische und eine Nachttischlampe als Beleuchtung. In einem Autoklaven sterilisieren sie alles, was sie können.

Mit bemerkenswerter Ruhe organisiert der junge Arzt die Arbeit des Teams: einer reicht ihm die Instrumente, ein anderer beleuchtet die zu operierende Stelle und ermöglicht Rogosow, mit Hilfe eines Spiegels zu kontrollieren, was er tut. Ein dritter des ungewöhnlichen Teams ist eine Art Reserve. Er ist zur Stelle, falls die beiden anderen ohnmächtig werden sollten. Auf dem Nachttisch liegen Adrenalinspritzen bereit - für alle Fälle.

Was sein muss, muss sein

Rogosow entscheidet sich für eine halb liegende Position, die rechte Hüfte etwas erhöht. Er beschließt, keine Handschuhe zu tragen, um seine Bewegungen präziser ausführen zu können.

1. Mai 1961, 2 Uhr morgens: Es ist alles bereit. "Meine armen Assistenten!", amüsiert sich Rogosow später. "Ich sah sie noch einmal an. Sie standen da, kreidebleich. Auch ich hatte Angst. Aber als ich mir die erste Injektion gab, schaltete ich automatisch in den Operationsmodus und von da an bemerkte ich nichts anderes mehr".

Rogosow injiziert sich ein Lokalanästhetikum und beginnt damit, seine eigene Bauchdecke über eine Länge von 12 cm zu öffnen. Er geht etwa 30 Minuten lang wie geplant vor, bis er einen Fehler macht: "Als ich das Bauchfell öffnete, verletzte ich den Blinddarm und musste ihn nähen."


Dr. Rogosow bei der Arbeit

Die Blutung ist sehr stark und schwächt Rogosow umso mehr, da er sich regelmäßig aufrichten muss, um besser sehen zu können. Er ist schweißgebadet und erschöpft. Alle vier bis fünf Minuten gönnt er sich ein paar Sekunden Ruhe. Schließlich findet er den Wurmfortsatz. Überrascht… "und zugleich entsetzt bemerkte ich eine schwärzliche Färbung an der Basis. Das bedeutet: nur ein Tag später und er wäre geplatzt." Der Tod wäre da so gut wie sicher gewesen.

"Mein Herz wurde schwer wie Blei und meine Hände fühlten sich wie Gummi an. Ich befürchtete, dass es schlimm enden würde." Rogosow reißt sich jedoch zusammen und macht weiter: Entfernen, Einbringen von Antibiotika in die Bauchhöhle, Nähen... Der erste selbst durchgeführte chirurgische Eingriff inmitten der polaren Wüste ohne medizinische Hilfe dauert eine Stunde und fünfundvierzig Minuten.

Fünf Tage später ist Rogosows Körpertemperatur wieder normal. Eine Woche später zieht er die Fäden. Mitte Mai nimmt er seine Arbeit wieder auf und setzt seine Mission fast ein Jahr lang fort.

Ein sowjetischer Held

Der Kreml lässt sich die Gelegenheit natürlich nicht entgehen: Der chirurgische Eingriff im ewigen Eis wird zur Propagandaaktion. Rogosow, ausgezeichnet mit dem Orden der Roten Fahne der Arbeit, der höchsten Auszeichnung für Zivilisten, wird mit einer anderen großen Persönlichkeit der 1960er Jahre, Juri Gagarin, verglichen, der wie er 27 Jahre alt war und wie er aus der Arbeiterklasse stammt. Doch der Arzt flieht geradezu vor den Ehrungen und kehrt schnell in seine Klinik in Leningrad zurück, eine Stadt, die er nie wieder verlassen sollte.

Als junger Student hatte Leonid Rogosow seine Dissertation über neue Operationsmethoden bei der Behandlung von Speiseröhrenkrebs geschrieben. Im Jahr 1990 erkrankte er an Lungenkrebs. Ironie des Schicksals: Er starb an den Folgen eines chirurgischen Eingriffs.