Ruhet in Frieden? Die Leichendiebe von England

Um an Körper zum Sezieren zu gelangen, nutzten englische Anatomen Leichenteile. Aber der wachsende Bedarf der medizinischen Akademien führte im 19. Jh. zum Aufschwung eines dunklen Geschäfts: dem Leichendiebstahl.

Die Geschichte des Sezierens

Übersetzt aus dem Französischen

Bevor wir verstehen, wie der menschliche Körper funktioniert, müssen wir uns dazu entschließen, hineinzuschauen. Doch in der Geschichte ist die Praxis des Sezierens oft auf soziale und religiöse Tabus gestoßen.

Wir gehen zwar heute davon aus, dass die ersten Spuren medizinischer Sektionen in Alexandria zu finden sind, unter dem Skalpell von Erasistratos oder Herophilos, wissen aber auch, dass das Studium der Anatomie in der folgenden Jahrhunderten so gut wie verschwand. Galenos selbst hatte zwar Gelegenheit, die Anatomie zu studieren, als er verletzte Gladiatoren in der Arena behandelte, aber auch er konnte wahrscheinlich keine Sektionen durchführen. Denn diese waren damals nach römischem Recht verboten. Seine Alternative war daher, die Studien, die er an Menschenaffen durchführte, auf den Menschen auszuweiten.

So bleibt bis zur Gründung der ersten europäischen Universitäten ab dem 13. Jahrhundert alles im Verborgenen. Die ersten Sektionen, die im Rahmen der medizinischen Ausbildung durchgeführt wurden, beginnen um 1340 in Bologna und später in Montpellier. Es sollte noch eine Weile dauern, bis eine ernstzunehmende anatomische Wissenschaft entstand, nämlich unter Andreas Vesalius Anfang des 16. Jahrhunderts.

Auf Leichensuche

Selbst wenn die Sektionen legal und zu didaktischen Zwecken öffentlich durchgeführt werden, stieß die Medizin bald auf ein grundlegendes Problem: den Mangel an Körpern. Die Kirche hat die Praxis als solche nie verboten, aber die zivilen und religiösen Behörden erlassen dazu strikte Anforderungen. Generell gilt, dass nur die sterblichen Überreste von hingerichteten Verbrechern in Frage kommen. Die Schieflage ist offensichtlich: Hier handelt es sich um überwiegend männliche Leichen, die zudem oft durch die Haftbedingungen oder die angewandte Hinrichtungsart beschädigt sind.

Kurzum, die europäische Medizin steht vor ernsten Problemen, wenn es um die Bereitstellung von Leichen geht. Und hier wird England zum Pionier, und zwar in zwei Phasen.

Leichenraub wird zum Geschäft

Erste Phase: 1688. In diesem Jahr führt das Königreich eine der repressivsten Strafpolitiken der modernen Geschichte ein: Der "Bloody Code" sieht die Todesstrafe bereits ab dem Alter von sieben Jahren vor und das für 160 verschiedene Verbrechen und Vergehen, einschließlich Vieh- und Pferdediebstahl. Die Henker haben alle Hände voll zu tun, was dazu führt, dass die medizinischen Fakultäten mehr Leichen anfordern können. Aber diesen Forderungen wird nicht immer nachgekommen.

Zweite Phase: 1752. Mit dem "Murder Act" beschließt seine königliche Majestät Georg II., dass es nicht in Frage kommt, Mördern nach ihrer Hinrichtung ein klassisches Begräbnis zu gewähren. Um ein Zeichen zu setzen, sieht der Gesetzestext nur noch zwei Möglichkeiten vor, über die der Richter zu entscheiden hat. Entweder wird der Körper des Hingerichteten bis zu seiner vollständigen Zersetzung in einem Käfig an einem Galgen ausgestellt oder er wird Anatomen zur öffentlichen Sezierung übergeben.

Heute schockiert uns eher die erste Möglichkeit, damals sah es jedoch ganz anders aus: Die Archive sind voll von Briefen von Verurteilten, die darum betteln, dass man sie lieber an einer Straßenecke verdorren lasse, als sie auf einem Seziertisch in einem Hörsaal verwesen zu lassen.

Doch dem nicht genug: Im späten 17. Jahrhundert entstehen immer mehr medizinische Akademien, die jedoch mit einem enormen Mangel an Leichen konfrontiert sind. So beginnen die Anatomen, sich Leichen außerhalb legaler Wege zu beschaffen. Es wundert nicht, dass besonders Clevere heimlich auf Friedhöfen zu graben beginnen, um so Leichen zu bergen und diese an den Meistbietenden zu verkaufen. Im Laufe des 18. Jahrhunderts geht die englische Wirtschaft in das vorindustrielle Stadium über. Das gilt auch für die Suche nach Leichen.

Das Ausgraben frisch beerdigter Leichen, bevor sie unter der Hand an eine Anatomie-Fakultät verscherbelt werden, wird zu einem florierenden Geschäft. Neben Professoren und Medizinstudierende sind auch Chirurgen und Neugierige mit einem kuriosen Geschmack wertvolle Kunden – und nicht zu vergessen die Bildhauer und die Maler, die darauf bedacht sind, die Zeichnung eines Muskels oder die Züge eines Gesichts naturgetreu zu reproduzieren1. Denn ein Leonardo da Vinci hat seine anatomischen Skizzen bestimmt nicht aus dem Nichts heraus gezeichnet.

Der Handel mit Leichen wird so für die sogenannten "Ressurectionnists" (zu deutsch: Auferstehungsmänner) oder "Body Snatchers" (zu deutsch: Leichenfledderer) zu einem sehr profitablen Geschäft.

Kadaver im Groß- und Einzelhandel

Die Qualität der Dienstleistungen variiert jedoch und damit auch die Preise. Die britischen Archive enthalten Dokumenten, die die Erstellung einer Art Preistabelle ermöglichen. 1795 legte eine Gruppe von 15 Body Snatchers in Lambeth dem Gericht während ihres Prozesses ihre Preise offen: zwei Guineen und eine Krone pro Leiche. Zu dieser Zeit verdiente ein Textilarbeiter eine Guinee pro Woche. Damit sind die Body Snatchers sehr gut bezahlt, wenn man bedenkt, dass nur etwa sechs Stunden nächtlicher Arbeit nötig sind.

1828 erreicht jedoch auch sie die Inflation: Der Arzt Astley Cooper, ein großer Spezialist für Gefäßchirurgie, schätzte den durchschnittlichen Tarif pro Körper auf acht Guineen, wies aber darauf hin, dass der Preis zwischen einer und zwanzig schwanken könne.

Das Hauptkriterium ist natürlich der Erhaltungszustand. Aber auch andere Faktoren bestimmen den Preis wie Geschlecht, Alter und die Konkurrenz. Ein männlicher Körper war teurer: Dessen Muskulatur, die im Allgemeinen stärker ausgeprägt ist als die von Frauen, ließ sich leichter sezieren und studieren. Im Winter, wenn der Frost die Körper gut konservierte, explodierten die Verkaufszahlen. Im Sommer dagegen ging der Umsatz zurück, da sich die Körper dann nicht mehr so gut erhalten ließen.

Mühen, die sich ausszahlen

Rowlandson_-_Resurrection_Me..Die Arbeit der Body Snatchers war besonders rentabel, da die nötige Investition gering war: eine Schaufel, eine Laterne, ein großer Sack und eine Schubkarre. Es war einfach in Erfahrungen zu bringen, wann und wo man graben musste. Man musste nur die Beerdigungen im Auge behalten und dem Totengräber, dem Küster, den Standesbeamten oder den Krankenpflegern in den Hospizen eine Münze zustecken. Um die Leichen in Umlauf zu bringen, lief es genauso. Es reichte oft aus, den Trägern oder Krankenpflegern des örtlichen College of Medicine ein Trinkgeld zu geben.

Die Historikerin Ruth Richardson schätzt, dass allein in London in den 1830er Jahren 200 Menschen den außergewöhnlichen Beruf ausübten. Jahrzehntelang versorgten sie die Krankenhäuser in allen großen Städten des Landes, von London bis Edinburgh. Das sind mehrere Tausend Leichen pro Jahr.

Kein Leichendiebstahl ohne Leiche

Ein Vorteil dieses Berufs ist, dass die Strafen relativ gering sind, und zwar aus zwei Gründen. Der erste Grund ist das Erbringen von Beweisen. Um Body Snatchers zu bestrafen, müssten die Leichen erst einmal gefunden werden. Das ist nicht einfach, wenn die Leichen naturgemäß schnell seziert werden, und das meist mehrfach.

Der zweite Grund ist rechtlicher Natur. Der Diebstahl einer Leiche wird damals nicht als Straftat angesehen, da eine Leiche niemandes Eigentum ist. Worin besteht dann die Straftat? Was eventuell strafbar ist, ist die Schändung eines Grabes. Und in einigen Fällen Schlägereien zwischen rivalisierenden Banden, die manchmal sogar in Krankenhäusern ausgetragen wurden.

So stürmte die London Borough Gang 1816 in großer Zahl in die Autopsiesäle der Saint Thomas' Hospital School, um die Ärzte zu verprügeln und die von ihren Konkurrenten verkauften Leichen zu beschädigen. Die Botschaft war klar: Nur sie hatten das Recht, Leichen zu liefern.

Fazit: In den seltenen Fällen, in denen die Body Snatchers erwischt wurden, bekamen sie ein paar Peitschenhiebe oder eine Verurteilung wegen Verstoßes gegen die guten Sitten. Aber in der Praxis neigte die Polizei dazu, ein Auge zuzudrücken.

Mord ist ihr Geschäftsmodell

Die Geschichte von William Burke und William Hare ist berühmt geworden. Die beiden Männer wurden nicht wegen des Verkaufs von Leichen an die Universität von Edinburgh verurteilt, sondern wegen Mordes. Weil sie zu faul waren, Leichen auszugraben, hatten sie eine scheinbar einfache Lösung gefunden: Sie erstickten die weiblichen Gäste ihres eigenen Gasthauses. Ein Umstand brachte die Menschen in Aufruhr: Robert Knox, der Anatom, der die Leichen gekauft hatte, wurde nicht strafrechtlich verfolgt. Burke aber wurde gehängt und anschließend im Edinburgh Medical College öffentlich seziert. Sein Skelett wird noch heute im Edinburgher Universitätsmuseum ausgestellt.

Parallelgeschäfte

England ist eine Handelsnation. So führte dieser Handel mit Leichen schnell zur Entwicklung eines anderen Geschäfts, nämlich der Sicherung von Leichen. Alles war recht, um den Body Snatchern die Arbeit zu erschweren: Wachdienste, verstärkte Grabplatten und Särge, verschlossene Gräber und sogar Sargkäfige, eine Art Metallbügel, die eine frisch eingerichtete Grabstätte abdeckten. Einige Bestattungsunternehmen boten sogar an, die sterblichen Überreste der Verstorbenen an den Särgen zu befestigen, um den Leichenraub zu verhindern.

1832 reagiert das britische Parlament auf die allgemeine Unzufriedenheit der Bevölkerung über die Zunahme der Fälle. Es erlaubt Ärzten, die sterblichen Überreste armer Menschen zu verwenden, deren Körper nicht von der Familie oder dem Umfeld beansprucht wird. Dieser "Anatomy Act" bedeutet das Ende der Body Snatchers. In Anbetracht des allgemeinen Elends, das in den Londoner Arbeitervierteln herrscht, sind Leichen in den Hospizen und Leichenhallen der Hauptstadt leicht zu finden.

Das Gesetz stößt jedoch auf allgemeine Ablehnung. Viele Engländer sind der Meinung, dass es die sozialen Ungleichheiten über den Tod hinaus weiterführe, indem es die Körper der Armen dem Skalpell ausliefert. Das ist in einer Gesellschaft, die noch weitgehend an Gott und die Auferstehung der Körper glaubt, ein Skandal. Aber es hilft nichts, das Gesetz wird verabschiedet und lässt die Preise für Leichen fallen.

Die Zeit der Leichenräuber währte recht lange, sodass sie bis heute in der gesamten Popkultur zu finden ist, darunter Mary Shelleys Frankenstein und H.P. Lovecrafts Kurzgeschichte "Herbert West - Der Wiedererwecker", in denen der Protagonist sich gezwungen sieht, für seine Experimente notwendige Leichen auszugraben, zu verstümmeln, und anschließend wieder zusammenzusetzen und erneut zum Leben zu erwecken.

Amerkungen:

  1. Als er das "Floß der Medusa" malte, spazierte der französische Maler Théodore Géricault regelmäßig mit menschlichen Körperteilen, die er aus dem Beaujon-Krankenhaus geholt hatte, durch Paris. Daher die sehr schönen grünen und gelben Reflexe seiner Leichen.