Leben und Sterben als siamesischer Zwilling

Im 19. Jahrhundert lassen sich die siamesischen Zwillinge Eng und Chang in Amerika nieder. Doch mit dem Alter kommt auch die Frage auf: Was passiert, wenn einer der beiden Brüder stirbt?

Das Leben der siamesischen Zwillinge Eng & Chang - Teil II

Übersetzt aus dem Französischen

Im 19. Jahrhundert werden die Brüder Eng und Chang zu internationalen Stars. Die aus dem Königreich Siam stammende Zwillinge sind im Bereich des Xiphoidfortsatzes am unteren Teil des Brustbeins zusammengewachsen. Doch diese Eigenheit hindern die beiden Brüder nicht daran, Karriere zu machen.

Unzertrennlich, aber nicht identisch

Die Zwillinge bleiben trotz ihrer gemeinsamen Karrierelaufbahn zeitlebens unterschiedlich. Eng ist ein ausgezeichneter Schachspieler, besitzt ein angenehmes Wesen, ist aber wortkarger als sein Bruder... Weiterlesen

Er ist auch ein überzeugter Aktivist, der sich verschiedenen Abstinenz- und Anti-Alkohol-Bewegungen anschließt, die in einem Amerika, in dem die Lebenserwartung selten über 40 Jahre liegt, immer stärker werden. Chang ist kleiner und charmanter, hat aber auch ein ungestümes Temperament. Er hat vier oder fünf Geldstrafen für Schlägereien auf dem Konto, in der New Yorker Unterwelt, in die er seinen Bruder mitschleppt.

Die beiden Männer streiten sich zwar manchmal, aber ihre Zuneigung zueinander ist ungebrochen. Wie eine Zeitung aus dieser Zeit schreibt, "machen sie sich das Leben viel angenehmer, als man denken könnte", so dass sie sogar die seltenen Vorschläge einer chirurgischen Trennung ablehnen. Die meisten Ärzte sind ohnehin der Meinung, dass jeder Versuch einer Trennung mit dem Skalpell zum Tod eines oder beider Brüder führen würde. Aber führt der natürliche Tod des einen Bruders zwangsläufig zum Tod des anderen?

Eheleben und Nachkommen

Das Erstaunlichste ist nicht die Leichtigkeit, mit der sich die beiden Männer in die zutiefst rassistische Gesellschaft der Südstaaten integriert haben. Es ist vielmehr die Tatsache, dass Eng und Chang es trotz der Gewebebrücke, die sie verbindet, schaffen, eine Familie zu gründen. Zwei Familien, genauer gesagt, und dieses Mal gegen den Widerstand der konservativsten Menschen in ihrer kleinen Gemeinde.

BunkerFamilies(1865).jpgDas Gerücht, dass die beiden Brüder heiraten wollten, ist schon seit einiger Zeit in den lokalen Zeitungen zu lesen, aber lediglich als Scherz. Aus rassistischen, moralischen und medizinischen Gründen scheint eine solche Verbindung unmöglich. Die meisten Kommentatoren sind der Meinung, dass die Nachkommen der Zwillinge zwangsläufig ihre "Behinderung" erben werden.

Am 13. April 1843 nimmt der Baptistenprediger Colby Sparks die Trauung von Eng und Sarah Yates auf der einen und Chang und Adelaide Yates auf der anderen Seite vor: zwei Schwestern und zwei Brüder. In etwas weniger als 30 Jahren bekommen die beiden Paare 21 Kinder, eines so normal wie das andere.

Man kann sich vorstellen, dass das Eheleben einige Anpassungen erfordert. So leben Eng und Chang abwechselnd in zwei Häusern, die mehr als zwei Kilometer voneinander entfernt sind, jeweils für drei Tage. Jeder Zwilling verpflichtet sich, sich während der Zeit, in der er im Haus seines Bruders lebt, zu äußerster Zurückhaltung.

Was passiert aber, wenn einer stirbt?

1870, als sie von einer Europatournee zurückkehren, die durch den Krieg zwischen Frankreich und Preußen unterbrochen wird, erleidet Chang einen Schlaganfall, der seine gesamte rechte Körperhälfte lähmt. Das ist die Seite, die ihn mit seinem Bruder verbindet. Dadurch können beide nicht mehr Treppen steigen oder hinuntergehen. Die Zwillinge sind von nun an ans Haus gebunden. Eng kümmert sich jahrelang um seinen Bruder, der zunehmend an einer Alkoholabhägikeit leidet.

12. Januar 1874: Chang beginnt zu husten und zu spucken. Die Auskultation zeigt bronchiale Rasselgeräusche auf der linken Seite. Drei Tage später verlassen die Zwillinge jedoch wie üblich Changs Haus und ziehen zu Eng. Am Abend des 16. hindert Changs Engegefühl in der Brust die Zwillinge daran, sich hinzulegen; sie schlafen im Sitzen ein. Am Morgen des 17. Januar kann eines von Engs Kindern nur noch den Tod seines Onkels Chang feststellen.

Eng ist offensichtlich gezeichnet und deutet an, dass er selbst nicht mehr lange zu leben hat. Auf die Nachricht des Todes seines Bruders soll Eng geantwortet haben: "Dann gehe ich auch."

In der nächsten Stunde bittet Eng immer wieder darum, dass seine Beine bewegt werden. Er bittet um eine Urinflasche, aber seine Bemühungen, Wasser zu lassen, bleiben erfolglos. Er hat ein Erstickungsgefühl und legt sich hin. Zwei Stunden nach dem Tod seines Zwillingsbruders stirbt auch Eng. Er war bis zum Schluss bei Bewusstsein.

Woran ist Eng gestorben?

Die Gerüchteküche brodelt: Es war mit Sicherheit der Anblick seines toten Bruders. Die Ärzte weisen die Hypothese nicht zurück. Die Autopsie findet genau "fünfzehn Tage und acht Stunden nach dem Tod" statt. Im Bericht1 heißt es, dass die Temperaturen zu dieser Zeit glücklicherweise kühl waren. Harrisson Allen, Chirurg am Krankenhaus von Philadelphia und Professor für vergleichende Anatomie, macht sich am 1. Februar 1874 an die Arbeit. Seine wichtigste Entdeckung ist eine Leberverbindung durch die Gewebebrücke, in den sich außerdem gemeinsame Fasern ihrer Zwerchfelle einfügen. Die vaskulären Verbindungen zwischen den Lebern der beiden Brüder sind allerdings sehr begrenzt und haben wahrscheinlich zu ihren Lebzeiten die Funktion ihrer Organismen nicht beeinträchtigt. Die Peritonealhöhlen und Verdauungssysteme sind jedoch völlig unabhängig voneinander.

Die Untersuchung bestätigt, dass sie keine Herzfehler hatten. Dies erklärt wahrscheinlich ihre Langlebigkeit, die für siamesische Zwillinge bemerkenswert ist: Die Bunkers sterben mit 62 Jahren, während die durchschnittliche Lebenserwartung in Amerika damals nur 42 Jahre beträgt. Der Langlebigkeitsrekord von Eng und Chang wird erst 2014 von den siamesischen Brüdern Ronnie und Donnie Galoon gebrochen, die im Juli 2020 im Alter von 68 Jahren sterben.

Was die genaue Todesursache der Zwillinge angeht, ist die Autopsie nicht eindeutig. Da die Familie die Untersuchung der Gehirne verweigert, kann Prof. Allen nur die Hypothese aufstellen, dass Chang eine Hirnvenenthrombose erlitten hat. Die vorangegangene Hemiplegie, der Lungenstau vor dem Tod und der schnelle Tod sind für ihn akzeptable Argumente. 

Der Chirurg ist sich über die Todesursache von Eng im Klaren: Er sei tatsächlich an Angst gestorben. Als Beweis führt er an, das "seine Blase stark überdehnt und der rechte Hoden zurückgezogen" waren. Die meisten Ärzte sind sich jedoch einig, dass es ein Blutkreislaufproblem war, das Eng tötete, da sein Kreislauf durch das Verbindungsband in den Körper seines toten Bruders "pumpte" ohne Blut zurückzubekommen.

Die Bunkers können stolz darauf sein, dass sie viele Nachkommen hatten – über 1500 laut einem Artikel, der 2011 im American Journal of Medical Genetics erschien.2

Anmerkungen:

  1. Report of an autopsy on the bodies of Chang and Eng Bunker, commonly known as the Siamese twins, by Harrison Allen
  2. Conjoined Twins: A Worldwide Collaborative Epidemiological Study of the International Clearinghouse for Birth Defects Surveillance and Research