esanum: Frau Dr. Krajewski, Sie sind habilitierte Kinderneurochirurgin, eine hochqualifizierte Spitzenmedizinerin. Derzeit arbeiten Sie jedoch als Palliativärztin im ländlichen Bereich. Was ist zwischen diesen beiden Lebenspolen passiert?
Dr. Krajewski: Die Kinderneurochirurgie ist ein wunderbares und erfüllendes Fach. Ich liebe es, Kinder zu operieren, zu heilen und sie auch zu begleiten, wenn Heilung nicht möglich ist. Aber ich habe es seelisch einfach nicht mehr ausgehalten, im Kliniksystem zu sein. Tatsächlich habe ich in der , die eine hochkomplexe und sehr menschliche Aufgabe ist, etwas gefunden, das mich absolut erfüllt und das, glaube ich, auch nicht jeder machen kann. Dennoch ist es wirklich bitter, wenn ich bedenke, wie viele Jahre ich in Forschung und spezialisierte Weiterbildung investiert habe. Bald werde ich die 24. Person in ganz Deutschland sein, die die Zertifizierung für Kinderneurochirurgie besitzt – und ich praktiziere es einfach nicht mehr.
esanum: Bleiben wir einmal bei dem Punkt, den Sie mit der Formulierung „seelisch nicht ausgehalten“ beschrieben haben. Was genau meinen Sie?
Dr. Krajewski: Ich war sehr positiv gestimmt, mich für ein in Deutschland entschieden zu haben, statt in Amerika, meiner Heimat. Das hatte persönliche Gründe, da mein Mann Deutscher ist und sein Fach ihn an Deutschland gebunden hat. Aber bereits während meiner Doktorarbeit bekam ich sexistische Kommentare über meine Rocklänge oder mein Aussehen, anstatt fachliche bzw. sachliche Reaktionen auf meine Vorträge. Das habe ich oft weggelächelt und gedacht, das betrifft vielleicht nur diese eine Gruppe, diesen einen Ort, diese Menschen. Mittlerweile habe ich jedoch gemerkt, dass es System hat. Im Rahmen meines Praktischen Jahres (PJ) und meiner Facharztausbildung war ich in mehreren Kliniken und habe überall Distanzlosigkeit und Machtmissbrauch erlebt. Das kann jede Form annehmen, sexualisierte Übergriffe sind nur eine davon. Es wird praktiziert, weil es keine Instanzen gibt, die einen Ober- oder Chefarzt stoppen würden. Offiziell kann man solche Dinge melden, aber leider bekommt man keine Unterstützung in meiner Erfahrung. Es wird totgeschwiegen, und nur selten setzt sich jemand für einen ein. Das betrifft Männer genauso wie Frauen, aber Frauen bieten natürlich mehr Angriffsfläche, besonders wenn sie Mütter werden. Für mich ist das Leben einfach zu kurz, um das die nächsten 20 Jahre jeden Tag auszuhalten.
esanum: Sie sind Mutter geworden. War das der erste Karriereknick?
Dr. Krajewski: Zuerst war ich überall eingeteilt und auf dem besten Weg, Kinderneurochirurgin zu werden. Ich wollte auch im Labor forschen. Aber als ich schwanger wurde, wurde quasi alles abgesagt, was mit Kinderneurochirurgie oder Laborarbeit zu tun hatte. Plötzlich war ich “nicht mehr geeignet”. Wenn Männer Kinder bekamen, war es kein Problem, dass sie im OP eingeteilt wurden, im Labor arbeiteten oder ein Auslandsjahr machten und ohne Nachteil wiederkamen. Auch Dienstplanwünsche für Forschungszwecke waren kein Problem. Wenn ein männlicher Kollege um 14:00 von der Station weggehen musste, weil er ins Labor musste, war das kein Problem. Aber wenn ich um 16 Uhr gehen musste, um meine Kinder abzuholen, durfte ich nicht gehen. Wir hatten ein Schichtsystem, ich habe keine Patienten unversorgt gelassen. Ich sagte: „Naja, sonst kommt das Jugendamt, ich muss jetzt mein Kind abholen“, aber ich wurde täglich eine Zeit lang gefragt: „Bist du Mutter oder Neurochirurgin? Entscheide dich!“
esanum: Sie sprechen einen alten Konflikt an: Uralte, männlich geprägte Machtstrukturen in der Medizin treffen auf einen zunehmend jungen, weiblichen Nachwuchs. Die Mehrzahl der Medizinstudierenden sind ja mittlerweile Frauen, und die Feminisierung der Medizin ist gar nicht aufzuhalten. Sind Sie da irgendwie zwischen die Stühle geraten? Würden Sie aus heutiger Sicht etwas anders machen?
Dr. Krajewski: Ich glaube, ich habe zu lange gedacht, dass ich das Problem bin. Es gibt leider auch Ärztinnen vom alten Schlag, die sagen: „Wir hatten es auch nicht besser.“ Ich hätte mich wahrscheinlich viel früher stark machen sollen und mir Hilfe holen müssen. Ich bin tatsächlich sehr früh zum Gleichstellungsbeauftragten gegangen. Letztlich haben sie mir aber nie geholfen. Mit etwas Abstand sehe ich, dass das konzernintern besetzte Stellen sind, auch zum Beispiel Whistleblower-Stellen. Es ist klar, dass diese nicht einer einzelnen Frau helfen, sondern solche Geschichten immer gedämpft halten.
Ich bereue es nicht, Neurochirurgie gemacht zu haben. Ich weiß, ich habe viele Leben gerettet, und ich habe das auch gut und gerne gemacht. Und ich war vor allem eine gute Chirurgin, weil ich meine Grenzen kannte. Aber ich würde zum Beispiel meinen Töchtern nicht dazu raten, zu machen.
esanum: Wenn man das im Umkehrschluss betrachtet, würde das heißen, dass Frauen, die in der Medizin gut klarkommen und Karriere machen, mit einem wirklich schrecklichen System von Machtmissbrauch kollaborieren.
Dr. Krajewski: Ich denke, viele Frauen haben im Hintergrund viel Hilfe, zum Beispiel durch ein Kindermädchen, oder sie haben einen anderen Weg gewählt, um sich unangreifbar zu machen. Mir wurde von einer Oberärztin geraten, mir ein Kindermädchen zu nehmen und rund um die Uhr zur Verfügung zu stehen. Dann würde man akzeptieren, dass man kurz diese „Auszeit“ genießen durfte, um ein Kind zur Welt zu bringen. Aber ich habe gesagt: Nein, ich möchte meine Kinder auch sehen. Ich habe über die Jahre absurde Vorschläge bekommen, um angeblich weiter zu kommen. Zum Beispiel sollte ich nach Dienstschluss noch bleiben, falls ein spannender Fall reinkommt. Das halte ich selbst ohne Kinder für Unsinn. Es mag für manche Frauen richtig sein, 1 oder 2 Nannys zu holen, aber es muss auch akzeptiert werden, wenn man oder frau einen anderen Weg geht – ob es aufgrund von Familienpflege bzw. Kindererziehung ist oder aus anderen Gründen.
Es gibt natürlich auch Kliniken, in denen Männer und Frauen gut unterstützt werden. Es gibt ein paar wenige Chirurginnen/Mütter, die wirklich protegiert wurden und das auch zu Recht. Das ist wunderbar, ich gönne es ihnen von Herzen. Aber die meisten Kliniken sind leider sehr altmodisch. Ich merke aber auch, dass die neue Generation von Ärzten, auch ohne Kinder, einen ganz anderen Blick auf hat und vielleicht einen anderen Ton setzen wird. Ich hoffe es sehr.
esanum: Auch für einen jungen Mann, der Familie hat, ist es eine Zumutung zu sagen: „Bleib mal auf Verdacht nach Dienstschluss noch hier.“ Das wollen doch auch Männer nicht?
Dr. Krajewski: Eigentlich nicht. Aber es gab einen Oberarzt, der mir dazu geraten hat und meinte, nur deswegen sei er so weit gekommen, weil er immer geblieben ist, falls etwas Spannendes käme. Das finde ich lebensfremd.
esanum: Sie stammen aus den USA. Sind dort die Verhältnisse anders? Haben Sie andere Wertvorstellungen mitgebracht?
Dr. Krajewski: Ich kenne es so: Ich war an der zweitältesten Universität in den USA für meinen Bachelor-Abschluss, wo einst Thomas Jefferson studiert hat. Ich habe sehr viele naturwissenschaftliche Kurse besucht und wurde immer nach Leistung beurteilt. Ich habe solche sexistischen Kommentare im Chemielabor oder in den Krankenhäusern, in denen ich Praktika gemacht habe, nicht erlebt. Tatsächlich wurde ich gefördert, weil ich gut war. Ich habe Stipendien für Chemieforschung bekommen und es hat nie jemand gesagt, weil ich eine Frau bin, könne ich das nicht. Deswegen glaube ich, dass es keine besondere Frauenförderung geben muss, wenn man einfach auf die Leistung schaut.
esanum: Sie haben dann nach einer gewissen Pause doch noch habilitiert und ausgerechnet an der Uniklinik, in der Sie so schlechte Erfahrungen gemacht haben. Wie kam es dazu?
Dr. Krajewski: Eigentlich hätte ich meine Habil viel früher einreichen können. Aber am UKE wurde mir vermittelt, dass meine Habilitation aufgrund meiner Mutterschaft aktiv verhindert wird. In Lübeck war es dann so, dass mir ebenfalls vermittelt wurde, dass ich Schwierigkeiten mit meiner Habilitation bekommen würde, wenn ich bestimmte Dinge (Verletzung meiner Rechte als Patientin mit unerlaubter Einsicht in meiner Patientenakte, sexuelle Übergriffe auf Station, siehe Artikel in der Zeit) melde. So etwas ist natürlich schwer zu beweisen, wenn die meisten Gespräche telefonisch gelaufen sind, aber tatsächlich ist der zeitliche Zusammenhang zwischen meiner Habil-Einreichung dort und der Meldung dieser Dinge vorhanden. Ich habe die Habil dann zurückgezogen und war danach im Altonaer Kinderkrankenhaus tätig, ein Lehrkrankenhaus des UKE. Doch ich habe nicht locker gelassen und habe es dann doch durchgezogen. Und wenn man am Lehrkrankenhaus über Kinderneurochirurgie habilitiert, gehört das unter die Schirmherrschaft des UKE.
Ich forsche auch jetzt weiter, habe Projekte, werde vielleicht ein Patent anmelden, mache Palliativforschung und habe einen Lehrauftrag am UKE in der Palliativmedizin.
esanum: Wie fühlen Sie sich als Medizinerin auf dem Land?
Dr. Krajewski: Es ist unglaublich befriedigend, wenn man merkt, dass man mit einer richtigen Schmerztherapie die Lebensqualität eines Menschen verbessern kann. Und wenn man den Sterbeprozess erklären und Familien beistehen kann. Ich war das erste Mal etwas beschämt, dass die Menschen sich bedanken, weil ich Ihnen geradeaus die Wahrheit über ihren Zustand gesagt habe. Viele verstehen nicht, dass sie in den letzten Zügen liegen. Und ich ermutige alle, dann wirklich zu leben. Ich hatte eine ganz besondere Patientin im Hospiz. Ich habe ihr Medikamente gegeben, um ihr noch etwas Kraft zu geben. Sie war dann noch auf einem Michael-Jackson-Konzert, sie war noch an der Ostsee, und drei Tage später ist sie friedlich eingeschlafen. Ihre Kinder und ihr Mann haben mich herzlich umarmt und mit mir nach ihrem Tod geweint. Sie waren so glücklich, dass sie wirklich bis zum Ende leben konnte und friedlich – ohne Schmerzen – eingeschlafen ist.
Manchmal komme ich auch chirurgisch zum Einsatz. Ich habe schon Wunden zusammengenäht oder Bäuche punktiert und Wasser abgelassen, was andere sich nicht trauen. Andererseits ist es aber psychisch sehr anstrengend. Alle meine Patienten und ihre Familien sind in einer Ausnahmesituation. Und ich betreue ca. 15 solcher Patienten gleichzeitig. Deswegen habe ich tolle, lebensbejahende Hobbys und versuche, jeden Tag zu leben.
esanum: Welche Hobbys haben Sie, die Ihr Leben bereichern?
Dr. Krajewski: Ich reite Western. Früher habe ich Turniere in S-Dressur gemacht. Und ich tanze mit meinem Mann. Wir sind Leistungsklasse D in Standard und Latein. Wir trainieren mehrmals die Woche, und am Wochenende bin ich dann im Glitzerkleid beim Turnier. Klavier spiele ich auch.
esanum: Es hört sich so an, als würden Sie alles zu 100% machen?
Dr. Krajewski: Ja, ich lebe voll. Jetzt zum Beispiel fahre ich zu einem Patienten, mein Cabrio ist offen, ich habe mein Glitzerlenkrad vor mir. Und wenn ich nicht mit Ihnen sprechen würde, würde ich Countrymusik hören und einfach denken: Ja, ich arbeite zwar, aber ich genieße das Leben auch.
esanum: Wie geht es jetzt weiter? Bleiben Sie in der Palliativmedizin?
Dr. Krajewski: Im Moment bin ich tatsächlich sehr glücklich. Ich habe eine tolle Aufgabe in der Palliativmedizin gefunden. Ich finde auch die Zusammenarbeit mit der Pflege gut, wirklich auf Augenhöhe. Und die Vereinbarkeit mit meiner Familie lässt sich gut organisieren. Ich würde auch gerne politisch aktiv werden, etwas in diesem System ändern. Leider ist das etwas, wo ich mich gar nicht auskenne, aber ich bin bereit, etwas zu ändern, falls sich der Weg ergibt. Und ich denke manchmal darüber nach, mit meinen Kindern und meinem Mann vielleicht ein, zwei Jahre nach Amerika auszuwandern, um zu gucken, ob es mir dort tatsächlich mit einer anderen Strategie im Krankenhaus besser gehen würde.
esanum: Was raten Sie jungen Medizinerinnen? Welchen Tipp würden Sie aus Ihren Erfahrungen ableiten?
Dr. Krajewski: Mein Rat ist: Lasst euch so etwas auf keinen Fall gefallen! Macht euch stark und dokumentiert alles, was passiert. Ich habe gehört, es gibt vielleicht bald eine Art Blacklist, auf der man prüfen kann, ob eine Klinik „mutterfreundlich“ ist oder nicht.
Ich bin selbst Mentorin für zwei Chirurginnen. Eine fragte mich, ob sie mit dem Kinderkriegen warten solle. Meine Antwort ist eindeutig: Ein Kind ist ein Geschenk des Lebens. Ich freue mich jeden Tag über meine beiden Kinder. Das konnte ich früher nicht wissen, aber hätte ich bis 37 gewartet, hätte ich keine Kinder mehr bekommen können. Ich würde niemals die Karriere vor die Kinder stellen. Für mich hat die Familie Priorität. Ich sehe zu viele Menschen am Sterbebett, allein, ohne Kinder oder Familie.
esanum: Sie raten dazu, sich nicht eingrenzen zu lassen – also Familie plus Karriere, das fordern Sie?
Dr. Krajewski: Auf jeden Fall! Das muss machbar sein. Es ist verdammt nochmal 2025 in Deutschland! Es gibt ein Zitat von Chaucer, einem alten englischen Autor: „Wenn Gold schon rostet, was dann soll Eisen tun?“ Ich frage mich, wenn es in Deutschland für Frauen problematisch ist, Ärztin und Mutter zu sein, was erwarten wir dann von Ländern, für die wir angeblich ein Vorbild sein wollen? Angesichts der Diskussionen über Themen wie das Kopftuch und unser vermeintlich fortschrittliches Selbstbild sollten wir in jedem Bereich mit gutem Beispiel vorangehen, anstatt andere Länder zu belehren, wie sie ihre Frauen zu behandeln haben.