Wochenrückblick: Demografischer Wandel und Gesundheitsreformen
Deutschland altert rasant. Gleichzeitig stehen große Reformen in Pflege, Notfallversorgung und Arzneimittelpolitik an.
Demografische Entwicklung: Herausforderungen für Jahrzehnte
Die Tatsache ist seit den 1980er Jahren bekannt: Deutschland wird unweigerlich altern und hätte sich längst darauf einstellen müssen. Aber nun bestätigt die aktuelle am Donnerstag vom Statistischen Bundesamt vorgestellte 16. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung: In den nächsten zehn Jahren steht Deutschland vor der heißen Phase einer dramatischen Alterung. Die wichtigsten Daten:
- Der Anteil der über 67-Jährigen steigt zwischen 2024 und 2035 von 20 auf 25 Prozent. Grund: Die Generation der Babyboomer befindet sich mitten im Übergang vom Erwerbsleben in die Rente. Hinzu tritt wahrscheinlich eine steigende Lebenserwartung, die dazu führt, dass die Zahl der Menschen über 67 um 3,8 bis 4,5 Millionen bis 2038 steigt.
- Gleichzeitig verschlechtert sich das Verhältnis von Erwerbstätigen zu Ruheständlern stetig – und dieser Trend hält über Jahrzehnte an. Heute kommen auf 100 Erwerbstätige 33 Rentner. Im Jahr 2070 werden es im günstigsten Fall 43 sein, im ungünstigsten Fall – bei niedriger Geburtenrate und geringer Nettozuwanderung – sogar 61.
- Unter den älteren Menschen wird insbesondere die Zahl der Hochbetagten über 80 Jahren ab Mitte der 2030er Jahre deutlich steigen: von derzeit 6,1 Millionen auf 8,5 bis 9,8 Millionen. Danach wird sie in etwa auf diesem Niveau bleiben. Etwa die Hälfte dieser Menschen dürfte pflegebedürftig sein.
- Die Zahl der Menschen im Erwerbsalter zwischen 20 und 66 Jahren wird sich bis 2070 von 41,2 Millionen (2024) auf im günstigsten Fall 45,3 Millionen, bei einem niedrigen Wanderungssaldo auf 37,1 Millionen vermindern. Durch Zuwanderung lässt sich die Abnahme dieser Altersgruppe nicht mehr aufhalten, bestenfalls lindern.
- Die Alterslast ist regional sehr unterschiedlich verteilt: Der Anteil der ab 67-Jahrigen an der Gesamtbevölkerung lag 2024 in den ostdeutschen Ländern bei 24 Prozent, im Westen bei 20 Prozent und in den Stadtstaaten bei 17 Prozent. Die Disparitäten werden aufgrund des starken Bevölkerungsrückgangs im Osten (bis 2070 zwischen minus 18 und 30 Prozent) weiter wachsen.
Bund-Länder-Plan für einen „Zukunftspakt Pflege“
Die Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Pflegereform“ hat sich am Donnerstag in Berlin auf Handlungsoptionen verständigt, die laut der ebenfalls beschlossenen Roadmap in den ersten Monaten 2026 mit den betroffenen Organisationen mit Blick auf die Praxis beraten werden sollen, die das Bundesgesundheitsministerium verpflichten, einen abgestimmten Vorschlag zur künftigen Finanzierung der Pflege vorzulegen und die in ein Gesetz zur grundlegenden Reform von Finanzierung und Leistungsstruktur der Pflege bis Ende 2026 münden sollen.
Als Handlungsoptionen hat die Arbeitsgruppe identifiziert:
- Ausbau der Früherkennung und Prävention pflegerelevanter Krankheiten durch die gesetzliche Krankenversicherung und durch Pflegeeinrichtungen.
- Systematischer Ausbau der Beratungs- und Schulungsleistungen in der häuslichen Pflege unter Nutzung gezielter Präventions- und Reha-Maßnahmen.
- Digitalisierung und Bürokratieabbau.
- Finanzierung: Einigkeit besteht darin, dass Maßnahmen, die die Ausgabenentwicklung stabilisieren, nicht ausreichen werden, um ab 2027 erhebliche zusätzliche Ausgabenbedarfe zu finanzieren. Dazu wird zunächst „in realistischer Perspektive an einem Teilleistungssystem“ festgehalten. Bei der Begutachtungssystematik sollen die Schwellenwerte hinsichtlich ihrer konkreten Zugangswirkungen hinterfragt werden mit dem Ziel einer stärkeren Leistungsfokussierung. Vor dem Hintergrund dynamisch steigender Eigenanteile der Betroffenen sollen Möglichkeiten ihrer Begrenzung geprüft werden; dies könnten eine Dynamisierung der Leistungen oder ein „Sockel-Spitze-Tausch“ sein. Notwendig seien aber Maßnahmen zur weiteren Verbesserung der Einnahmenseite, die nicht näher genannt werden. Zur Verbesserung der Nachhaltigkeit und Generationengerechtigkeit werden kapitalgedeckte Finanzierungselemente erwogen. Dazu könnte der Pflegevorsorgefonds weiterentwickelt werden: seine Anlage auf Dauer auch mit dem Ziel einer stärkeren Renditeorientierung. Eine weitere Option ist der Ausbau der individuellen privaten Pflegevorsorge.
Notfallversorgung: Reform dringend, Pläne aber noch korrekturbedürftig
Grundsätzlich halten alle Organisationen die Reform der Notfallversorgung und dabei auch eine Neuordnung des Rettungsdienstes für dringend notwendig. Dieser dritte Reformversuch müsse nach vielen Jahren nun gelingen, forderte der Präsident der Bundesärztekammer, Dr. Klaus Reinhardt, bei der Verbändeanhörung zum vorliegenden Referentenentwurf. Die wesentlichen Korrekturwünsche:
- Der Aufbau der Notfallstrukturen und die Personalausstattung der Leitstellen seien eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und müssten deshalb aus Steuermitteln finanziert werden, so die Bundesärztekammer.
- Sie fordert ferner, Krankenhausapotheken in die Arzneimittelversorgung durch die Integrierten Notfallzentren einzubeziehen; auch könnten Ärzte in INZ zur Abgabe von Arzneimitteln legitimiert werden.
- Aufsuchende ärztliche Fahrdienste zur Versorgung immobiler Patienten seien sinnvoll, dürften aber nicht 24/7 gefordert werden; das belaste begrenzte ärztliche Ressourcen.
- Der Marburger Bund, aber auch Klassenverbände wie der vdek, plädieren eindringlich für gleiche Ersteinschätzungsstandards in Leitsystemen, INZ und Krankenhäusern ohne INZ. „Die medienbruchfreie Bereitstellung von Daten aus der einheitlichen und validierten Ersteinschätzung ist entscheidend für den Erfolg der Reform“, so die Vorsitzende des Marburger Bundes, Susanne Johna.
- Für klärungsbedürftig hält der Marburger Bund, wie viele INZ für eine flächendeckende Notfallversorgung erforderlich sind.
- Die Gesetzgebungsverfahren für das Krankenhausreformanpassungsgesetz und die Reform der Notfallversorgung müssen aufeinander abgestimmt und miteinander kompatibel sein. Dies gilt insbesondere für die Festlegung der INZ‑Standorte durch die erweiterten Landesausschüsse sowie für die Berücksichtigung der Strukturvoraussetzungen der Notfallstufen des Gemeinsamen Bundesausschusses.
- Organisationen wie das Aktionsbündnis AKTIN, die Deutsche Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie und die Technologie- und Methodenplattform für vernetzte medizinische Forschung (MFT) weisen darauf hin, dass der Reformerfolg maßgeblich von einer durchgängigen digitalen Dokumentation aller beteiligter Leistungserbringer abhängig ist. Notfalldaten müssten entlang der gesamten Versorgungskette digital verfügbar sein und auch für die Forschung genutzt werden können.
AOK plädiert für eine Revision des AMNOG und der Preisregularien
Der AOK-Bundesverband fordert zur Stabilisierung der Arzneimittelausgaben, gestützt auf den Daten und Analysen des am Dienstag veröffentlichten „Arzneimittel-Kompass 2025“ seines Wissenschaftlichen Instituts, kurzfristig eine Erhöhung der Herstellerrabatte für patentgeschützte Arzneimittel auf 16 Prozent und mittelfristig eine grundlegende Überarbeitung der 2011 wirksam gewordenen Erstattungsregelungen für neue Wirkstoffe nach dem AMNOG.
Zur Begründung wird angeführt, dass das Wachstum der Arzneimittelausgaben seit 2011 von 125 Prozent ganz wesentlich von neuen Wirkstoffen beeinflusst ist. So lag der Umsatzanteil patentgeschützter Arzneimittel 2024 bei 54 Prozent der gesamten Arzneimittelausgaben von knapp 60 Milliarden Euro, der Anteil verordneter Tagesdosen jedoch nur bei sieben Prozent. Grund sei, dass es zunehmend zu einer Entkoppelung zwischen Preis und Zusatznutzen komme und dass Hersteller Umgehungsstrategien entwickelt hätten.
Eine der Umgehungsstrategien sei die „Orphanisierung“ beim Markteintritt, um sich das Orphan-Privileg zunutze zu machen, wonach der Zusatznutzen bei einem anerkannten Orphan Drug bis zu einem Umsatz von 30 Millionen Euro als belegt gilt. Als Indiz dafür sieht das AOK-Institut die Tatsache, dass von den 42 Neueinführungen im vergangenen Jahr 24 Orphan Drugs waren.
Als Reformoptionen werden vorgeschlagen:
- Arzneimittel mit unsicherer Evidenz, aber hohem medizinischen Bedarf sollten nur noch in qualifizierten Zentren eingesetzt werden.
- Die bisher geltende freie Preisfestsetzung bei der Markteinführung durch den pharmazeutischen Unternehmer sollte durch einen Interimspreis ersetzt werden.
- Pharma-Unternehmen sollen künftig transparent machen, in welchem Ausmaß sie durch öffentliche Forschungsmittel unterstützt worden sind, um eine Doppelfinanzierung von Forschung und Entwicklung aus Steuermitteln und Krankenkassenbeiträgen zu vermeiden. Dazu werden konkrete Vorschläge unterbreitet.
Europäische Union: Umfassende Reform der Arzneimittel-Gesetzgebung
Nach dem Abschluss des Trilogs zwischen dem EU-Parlament, dem Ministerrat und der Kommission wird die gesamte EU voraussichtlich im nächsten Jahr neue Rahmenbedingungen für die Zulassung und Vermarktung von Arzneimitteln bekommen. Wesentliche Ziele der Reform waren es, zum einen den Zugang und die Verfügbarkeit von Arzneimittelinnovationen, die in den einzelnen EU-Mitgliedsstaaten extrem unterschiedlich ist (Deutschland schneidet hier bei weitem am besten ab), zu verbessern und zum anderen die Entwicklung von neuen antibiotischen Wirkstoffen vor dem Hintergrund weltweit zunehmender Antibiotika-Resistenzen zu fördern. Die Maßnahmen im Einzelnen:
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Zugang zu Innovationen: Erreicht werden soll dies durch Anreize über „modulare Schutzfristen“. Damit werden die Fristen für den Unterlagenschutz – es bleibt allerdings, anders als zunächst geplant, bei einer Mindestfrist von acht Jahren – künftig an die EU-weite Verfügbarkeit neu zugelassener Arzneimittel geknüpft. Weitere Kriterien sind die Generierung von Evidenz für den Nutzen oder die Versorgung unerfüllten medizinischen Bedarfs. Erfüllt ein Unternehmen für ein Medikament in hohem Maße die Anforderungen, kann die Schutzfrist auf bis zu elf Jahre ausgeweitet werden. Die EU reagiert damit auf die Tatsache, dass es in etlichen Ländern, vor allem in Osteuropa, meistens etliche Jahre dauert, bis für Patienten Krankenkassen oder Staat diese Arzneimittel bezahlen. Die Industrie kritisiert die hohe Komplexität und die damit verbundenen zusätzlichen Unsicherheiten durch diese neue Regulierung.
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Förderung der Entwicklung neuer Antibiotika: Die EU adressiert damit das Problem zunehmender Antibiotika-Resistenzen. Die Herausforderung: Die Neuentwicklungen dürfen, um möglichst lange ihre Wirksamkeit zu behalten, nur sehr gezielt als Reserveantibiotika eingesetzt werden, haben daher ein begrenztes Umsatzpotential. Um dies wirtschaftlich zu kompensieren, erhält der Innovator das Recht auf eine Transferable Exclusivity Extension (TEE). Mit diesem Voucher, die er im Rahmen der EU-Zulassung erhält, bekommt er das Recht, die Marktexklusivität entweder auf ein eigenes umsatzstarkes Produkt auszudehnen oder, wenn dies im eigenen Unternehmen nicht vorhanden ist, an einen anderen Hersteller zu übertragen (transferable). Es gibt für dieses Anreizmodell allerdings auch Begrenzungen.
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Modernisierung, Digitalisierung und Beschleunigung der Zulassung: Planbarkeit und Effizienz der Zulassung für Innovationen sollen damit verbessert werden. Ferner soll eine elektronische Packungsbeilage als Patienteninformation möglich werden.
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Maßnahmen zur Bekämpfung von Lieferengpässen: Dazu werden Melde-, Dokumentations- und Berichtspflichten ausgeweitet. Die Industrie befürchtet zusätzliche Bürokratiekosten, aber keine Lösung des Problems der Abhängigkeiten von China und Indien, insbesondere im Generia-Segment.
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KARL: Eine weitere Belastung insbesondere für die Hersteller chemischer Wirkstoffe verursacht die Kommunale Abwasser-Richtlinie (KARL) der EU, ein eigenes Gesetz außerhalb des Pharma-Pakets: Danach ist vorgesehen, dass die Kosten einer vierten Klärstufe in der kommunalen Abwasserreinigung verursachergemäß in der Hauptsache auf die Pharma- und Kosmetika-Industrie umgelegt werden. Im Streit liegt die Industrie mit der Kommission über die Kostenwirkungen. Nach einer neuen aktuellen Schätzung erwartet die EU-Kommission für ganz Europa Kosten zwischen 1,48 und 1,8 Milliarden Euro, das Umweltbundesamt jedoch allein für Deutschland rund eine Milliarde Euro.