Wochenrückblick: Präventions-Versagen, Budgetstreit und explodierende Kassen-Ausgaben

Deutschland belegt im europäischen Public-Health-Vergleich den letzten Platz. Währenddessen explodieren die GKV-Ausgaben. Die KBV übt scharfe Kritik an der Gesundheitspolitik des BMG.

Public-Health-Index: Deutschland hält in Europa die Rote Laterne

In den wichtigsten Präventionsfeldern schneidet Deutschland im Vergleich von insgesamt 18 europäischen Ländern überwiegend schlecht ab und hält zusammen mit der Schweiz die Rote Laterne. Dies zeigt der vom AOK-Bundesverband erstmals veröffentlichte Public Health-Index, der vier zentrale Handlungsfelder für die Präventionspolitik beleuchtet. In der Spitzengruppe rangieren UK, Finnland und Irland, aber auch mittelosteuropäische Staaten wie Litauen und Polen sind erstaunlich erfolgreich. Die wichtigsten Einzelergebnisse:

Tabakprävention: Deutschland kommt auf den vorletzten Rang, schlechter schneidet nur die Schweiz ab. Ursache: In zentralen Bereichen bleibt Deutschland weit hinter den Empfehlungen der WHO zurück. Das betrifft die niedrige Tabaksteuer, Werbung am Verkaufsort sowie Ausnahmen beim Nichtraucherschutz. An der Spitze liegen Irland und UK, gefolgt von Frankreich.

Alkoholprävention: Mit Österreich liegt Deutschland gleichauf auf dem vorletzten Platz, schlechter ist nur Luxemburg. Grund: zu niedrige Besteuerung und daher sehr günstige Preise, hohe Verfügbarkeit und intensive Werbung. 

Ernährungspolitik: Deutschland kommt auf null Punkte - zusammen mit Luxemburg, Österreich und der Schweiz. Keine der sechs untersuchten Maßnahmen zur Förderung gesunder Ernährung ist umgesetzt. Zudem gibt es keine verbindlichen Qualitätsstandards für Schulessen oder Vorgaben für das Snackangebot an Schulen; stark gesüßte Getränke werden nicht extra besteuert; es gibt keine wirksamen Regelungen zum Kinderschutz in Sachen Werbung.  

Bewegungsförderung: Das ist der einzige Bereich, in dem Deutschland knapp durchschnittlich ist und nicht das Schlusslicht bildet. Formell gebe es zahlreiche Programme, oft fehle es aber an einer konsequenten Umsetzung vor Ort. 

Wider besseres Wissen setzt die Politik in Deutschland – begründet mit dem “liberalen Credo” zur Eigenverantwortung – prioritär auf Verhaltensprävention und Unverbindlichkeit und lässt weitere Chancen ungenutzt. Die Folge ist unter anderem auch ein starker sozioökonomischer Gradient sowie eine um zehn Jahre verkürzte Lebenserwartung von Menschen aus dem untersten Einkommensperzentil verglichen zu Menschen aus dem obersten Perzentil.

KBV: Massive Unzufriedenheit mit der Gesundheitspolitik

Erhebliche Unzufriedenheit mit der politischen Praxis des Bundesgesundheitsministeriums hat der KBV-Vorstand bei der Vertreterversammlung am vergangenen Freitag in Berlin artikuliert. „Reformen sind dringend nötig, das bestreitet niemand“, sagte KBV-Vorsitzender Dr. Andreas Gassen. „Wenn man inhaltlich reformieren will, sollte man auch mit denjenigen sprechen, die Reformen umsetzen müssen. Doch das passiert leider nicht.“ Nicht nur der Stil, sondern auch die Inhalte werden von der KBV-Spitze scharf kritisiert. Im Einzelnen:

Budgetierung: Sie habe 2024 dazu geführt, dass Leistungen im Wert von 2,7 Milliarden Euro nicht vergütet worden seien. Durch die Entbudgetierung der allgemeinen hausärztlichen Leistungen und der Hausbesuche sei dieser Betrag auf 2,3 Milliarden Euro gesunken. Immer noch gebe es für 13 Prozent der Facharzt-Konsultationen – das sind 43 Millionen Termine – keine Vergütung. 

Wirksame Patientensteuerung: Eine echte Reform sei nicht sichtbar, so KBV-Vize Dr. Stephan Hofmeister. Stattdessen gebe es Pseudolösungen, bei denen versucht werde, knappe ärztliche Ressourcen von anderen Gesundheitsberufen oder Verlagerung medizinischer Leistungen in Supermärkte und Drogerieketten auszulagern. Das sei eine „Deprofessionalisierung“ im Gesundheitswesen und eine „Bagatellisierung“ der Versorgung. Der Entwurf für die Notfallreform setze ferner Fehlanreize und lasse eine realistische Einschätzung vorhandener Ressourcen vermissen. Das gilt zum Beispiel für mehr integrierte Notfallzentren. Und es gilt für den Plan, dass Vertragsärzte mit einem Fahrdienst rund um die Uhr erreichbar sein sollen.

Apothekenreform: Damit würden Aufgaben an Apotheker wie Impfen und Abgabe rezeptpflichtiger Arzneimittel ohne Rezept übertragen, die zuvor einer ärztlichen Diagnose bedurften. Eine Lösungsmöglichkeit sieht die KBV dagegen in automatisierten Abgabestellen oder die direkte Medikamentenabgabe nach telepharmazeutischer Beratung, in Notdienstpraxen oder beim Hausbesuch, so Vorstandsmitglied Sibyle Steiner.  

GKV-Finanzen: „Unter größtem finanziellen Druck“

In den ersten drei Quartalen sind die Ausgaben der gesetzlichen Krankenkassen mit 7,8 Prozent deutlich stärker als die Einnahmen mit 5,3 Prozent gestiegen. Gleichwohl wurde ein Überschuss von 3,6 Milliarden Euro erzielt, der allerdings vorrangig zum Auffüllen der Mindestreserven verwendet werden muss. Aktuell liegt diese Reserve bei 0,19 Monatsausgaben, das gesetzliche Soll beträgt 0,2 Monatsausgaben. 

Aufgrund dieser Entwicklung sieht Bundesgesundheitsministerin Nina Warken die Kassen „unter größtem finanziellem Druck“. Man müsse „den Entwicklungen der vergangenen Jahre endlich etwas entgegensetzen“. Sie mahnte eine rasche Entscheidung des Vermittlungsausschusses an, um bestehende Planungsunsicherheiten zu beenden. Außerdem müsse den Entscheidungsträgern bewusst sein, dass die Herausforderungen im kommenden Jahr „ungleich höher sein werden“. Bis März soll eine Expertenkommission Vorschläge erarbeiten, der Reformdruck sei „gewaltig“. 

Nach den am Freitag vom BMG veröffentlichten Daten sieht die Finanzentwicklung in den ersten drei Quartalen 2025 so aus:

Der durchschnittliche Zusatzbeitrag lag mit 2,94% deutlich über dem im Oktober 2024 veranschlagten Zusatzbeitrag. Die Liquiditätsreserve des Gesundheitsfonds ist von 5,7 Milliarden Euro im Januar auf einen Fehlbetrag von 6,7 Milliarden Euro gesunken, dürfte aber im vierten Quartal wieder ausgeglichen werden. Aufgrund relativ hoher Tarifabschlüsse und Sonderzahlungen stiegen die Beitragseinnahmen der Kassen  mit 5,3% erheblich, hielten aber nicht mit der Ausgabendynamik Schritt: Die Leistungsausgaben stiegen um 8%; absolut ist das ein Plus von 18,6 Milliarden Euro. 

Stationäre Versorgung: Maßgeblicher Kostentreiber sind die Krankenhäuser mit einem Zuwachs von 9,9% oder 7,4 Milliarden Euro. Die Dynamik hat sich im Vergleich zu 2024 noch einmal verstärkt. Ursächlich dafür sind hohe Vergütungssteigerungen und die Refinanzierung bisher nicht abgebildeter Personalkostensteigerungen im Vorjahr. Allein die volle Refinanzierung der Pflegepersonalkosten, die unter Jens Spahn eingeführt wurde, erhöhte das Pflegebudget um 13,3% oder 2,19 Milliarden Euro. In diesem Zusammenhang berichtet der Bayerische Rundfunk über Missstände, wonach Pflegepersonal zur Reinigung von Räumen und Betten eingesetzt wird, um Personal zu sparen. 

Arzneimittel: Das Ausgabenplus liegt wie in den Quartalen zuvor bei 6%. Eine unverändert starke Dynamik weist die ASV mit plus 25% oder 559 Millionen Euro auf.

Ambulante ärztliche Versorgung: Der Zuwachs liegt bei 7,6% oder 2,9 Milliarden Euro. Neben dem Anstieg des Orientierungswertes von 3,85% ist eine dynamische Entwicklung bei ambulanten Operationen durch die neuen Hybrid-DRG sowie extrabudgetäre psychotherapeutische Leistungen zu erklären. Die Angaben beruhen auf Schätzungen.

Unterdessen haben die Krankenkassen in der vergangenen Woche damit begonnen, ihre Klagen gegen die Bundesrepublik Deutschland bei den Gerichten einzureichen. Sie fordern vom Bund die kostendeckende Erstattung der Gesundheitsversorgung von Bürgergeldbeziehern in Höhe von rund zehn Milliarden Euro. 

Sparpaket für Kassen: Vermittlungsausschuss entscheidet nächste Woche

Das im Moment blockierte Pflegekompetenz-Gesetz zur Befugniserweiterung und Entbürokratisierung in der Pflege (BEEP) – diesem Gesetz ist ein Finanzentlastungspaket für die Krankenkassen mit einem Volumen von zwei Milliarden Euro beigefügt – könnte bis Ende der nächsten Woche entschieden werden. Der Bundesrat hat wegen des Spargesetzes den Vermittlungsausschuss angerufen. Das Gesetz sieht Einsparungen bei den Krankenhäusern vor. Der Vermittlungsausschuss will am Mittwoch, den 17. Dezember, darüber beraten und entscheiden. Anschließend kann der Bundestag am Donnerstag das Gesetz erneut beschließen. Der Bundesrat kann am Freitag, dem letzten Sitzungstag in diesem Jahr, zustimmen.

Praxisumsatz der Ärzte: GKV-Anteil sinkt 

Der Anteil der Einnahmen von Ärzten aus GKV-Umsätzen hat mit 67% im Jahr 2023 einen historischen Tiefststand seit der ersten Publikation des Statistischen Bundesamtes im Jahr 2000 erreicht. In den beiden Vorjahren lag der GKV-Anteil noch bei 71,1% und 71,7%. Dagegen stieg der Anteil aus PKV-Honoraren auf 28%, in den beiden Vorjahren waren es 24,3% und 24,5%. Sonstige Einnahmen aus ärztlicher Tätigkeit machen 5% aus. Als einen Grund für die wachsende Bedeutung privatärztlicher Einnahmen nennt das Statistische Bundesamt eine wachsende Zahl reiner Privatpraxen. Ihr Anteil erhöhte sich binnen eines Jahres von 5,4% auf 6,5%. Besonders bedeutend sind Privathonorare für Dermatologen (PKV-Umsatzanteil 52,3%), Orthopäden und Unfallchirurgen (47,2%), Chirurgen sowie Mund-Kiefer-und Gesichtschirurgen (46,8%) und Urologen (45,5%). Psychotherapeuten erzielen hingegen 88,7% ihrer Einnahmen aus der Behandlung von Kassenpatienten. 

Notfallambulanzen: Fallzahl steigt auf 13 Millionen

Die Zahl der Behandlungen in Notfallambulanzen der Krankenhäuser ist 2024 um 5% auf 13 Millionen gestiegen - ein neuer Rekordwert seit Beginn der Erfassung durch das Statistische Bundesamt im Jahr 2018. Der niedrigste Stand wurde mit 9,4 Millionen Fällen 2020, dem ersten Pandemie-Jahr, erreicht. Die Zahl der vollstationären Behandlungsfälle lag 2024 bei 17,5 Millionen, 2% mehr als im Vorjahr. Im gesamtdeutschen Durchschnitt nahmen letztes Jahr 156 von 1000 Einwohnern eine Notfallambulanz in Anspruch. Die Werte unterscheiden sich je nach Bundesland: Die stärkste Inanspruchnahme haben Hamburg und Berlin mit 213 und 208/1000 Einwohner, die niedrigste Thüringen, Hessen und Schleswig-Holstein (125, 123, 119/1000 Einwohner).

Krankenhausleistungen: Bis zu 60% ambulant möglich

Nach einer Analyse des Wissenschaftlichen Instituts der Ortskrankenkassen (WIdO) wären bis zu 60% aller derzeit im Krankenhaus behandelten Fälle ambulant behandelbar. Mehr als acht Millionen Behandlungsfälle könnten damit überführt werden. Gemessen an Belegungstagen und Ausgaben für die vollstationäre Versorgung könnte das zu einer Entlastung von rund 40% führen. Das WIdO bezeichnet den Weg dahin zwar als langwierig, es würde aber zu einer Angleichung an den internationalen Standard führen. Die Versorgungsqualität würde dadurch eher gesteigert werden. Internationale Erfahrungen zeigten, dass die Ergebnisqualität verbessert werden könnte. Das WIdO hat dabei auch mit Blick auf die anstehende Krankenhausreform das Ambulantisierungs-Potential der verschiedenen Leistungsgruppen untersucht: mit rund 80% wäre es am größten bei Herzkatheterbehandlungen sowie elektrophysiologischen Untersuchungen. Schlaganfallbehandlungen in Stroke-Units gelten hingegen nicht als Option für eine ambulante Versorgung. Die Untersuchung zeigt somit auch, welche Krankenhäuser sich mit welchen Abteilungen auf große Umstrukturierungen einstellen müssen. 

Biosimilar-Austausch nun auch durch Apotheker möglich

Nach langen Beratungen und umfassender Anhörung von medizinischen Experten und Fachgesellschaften hat der Gemeinsame Bundesausschuss am Donnerstag einen Beschluss gefasst: Künftig dürfen auch Apotheker Biosimilars austauschen. Strittig war dabei der Umfang der Austauschbarkeit. Auf der einen Seite stand der GKV-Spitzenverband. Auf der anderen Seite standen die KBV, die Deutsche Krankenhausgesellschaft und die Patientenvertretung. Die KBV, die Krankenhausgesellschaft und die Patientenvertretung forderten eine begrenzte Austauschbarkeit: Ein Austausch sollte nur bei den Indikationen erlaubt sein, für die sowohl das Originalpräparat als auch das Biosimilar zugelassen sind. Der GKV-Spitzenverband forderte hingegen eine umfassende Austauschbarkeit für alle Anwendungsgebiete.

Der Vorsitzende des Gemeinsamen Bundesausschusses, Josef Hecken, wies darauf hin, dass die Zulassungsbehörden aufgrund der inzwischen vorliegenden langjährigen Erfahrungen beim Einsatz von Biosimilars und deren Austausch durch Ärzte ähnlich gute Erfahrungen gemacht worden seien wie bei chemisch definierten Arzneimitteln. Die Gleichheit der Moleküle bedeute auch die Gleichheit der Wirkung, Risiken für Patienten entstünden durch den Austausch nicht, so der GKV-Spitzenverband. Die erweiterte Substituierbarkeit erschließe mögliche und notwendige Wirtschaftlichkeitsreserven. 

Die betroffene Biosimilar-Industrie sieht diese Entwicklung mit Sorge und verweist insbesondere auf negative industriepolitische Erfahrungen mit dem Rabattwettbewerb bei chemischen Generika. Während die Biosimilar-Industrie in Europa noch sehr gut und umfassend aufgestellt ist, hat sich die Produktion chemischer Generika-Wirkstoffe zu großen Teilen nach China und Indien verlagert. Die Produktion ist zudem häufig auf wenige Hersteller konzentriert. So entstandene Risiken lösen immer wieder Lieferengpässe aus. Der Branchenverband Pro Biosimilar warnt daher seit Jahren, dass sich dieser Prozess bei biologischen Arzneimitteln nicht wiederholen dürfe.

Personalie

Hermann Gröhe, 64, ehemaliger Bundesgesundheitsminister (2023 bis 2017), ist neuer Generalsekretär des Deutschen Roten Kreuzes und damit Nachfolger von Gerda Hasselfeldt, die ebenfalls Gesundheitsministerin (1991/92) war. Nach Kürzungen von Ausgaben für humanitäre Hilfe im Bundeshaushalt steht der neue DRK-Chef angesichts einer wachsenden Zahl von Konflikten, bei denen die Organisation Hilfe leistet, vor großen Herausforderungen. Gröhe gehört seit dieser Legislaturperiode nicht mehr dem Bundestag an.