Künstliche Intelligenz als zweite Chance für Krankenhäuser

Die Digitalisierung der öffentlichen Krankenhäuser erwies sich als erfolgslos. Joris Galland erklärt, wie ein mutiger Technologiesprung zur Künstlichen Intelligenz eine zweite Chance für das Krankenhaussystem bieten könnte.

Künstliche Intelligenz kommt zur Rettung der Krankenhäuser

Übersetzt aus dem Französischen

Die Informatisierung der Krankenhäuser verlief ohne Zuhilfenahme der Expertise, die die eigentlichen Anwender mitbringen. Dieser Fehler scheint sich im Zusammenhang mit künstlicher Intelligenz (KI) jedoch nicht zu wiederholen, da nun sowohl das Gesundheitspersonal als auch Start-Up-Unternehmen zusammenarbeiten. Logistik, Diagnosehilfen und Pflegeplanung sind nur einige Beispiele der vielen Bereiche im Krankenhaus, in denen maschinelles Lernen und Algorithmen zum Einsatz kommen werden.

"Zuweilen heilen, häufig lindern, immer zuhören". Das ist und bleibt die Aufgabe des Pflegepersonals. Der Personalabbau in den Krankenhäusern Europas und die Zunahme der Verwaltungsarbeit behindern jedoch den Kontakt zu den Patienten. Diese unfreiwillige Mehrbelastung führt zur allseits bekannten psychischen Belastung, die für das Burnout-Syndrom unter dem Pflegepersonal verantwortlich gemacht wird.

Der Druck auf die öffentlichen Krankenhäuser ist enorm und er wirkt sich zweifelsfrei auf die Qualität der Patientenversorgung aus. Die psychische Belastung des Gesundheitspersonals ist ein Problem. Eine der Ursachen, die selbst bei technikaffinen Pflegekräften festgestellt wurde, ist die Informatisierung der Patientenakten.

Dieser in den 2000er Jahren begonnene Technologie-Umbruch sollte den Pflegekräften eigentlich mehr Zeit verschaffen, damit diese sich wieder auf die menschliche Dimension der Pflegearbeit konzentrieren können. Leider ist das nicht gelungen. Inzwischen, zwanzig Jahre später, gehen die Krankenpflegekräfte nicht mehr mit den Ärzten auf Visite, da sie damit beschäftigt sind, Vitalwerte in den Computer einzugeben und die Pflege digital zu dokumentieren. Und die Ärzte verbringen Stunden damit, Befunde in den Computer einzugeben und den Schriftverkehr zu erledigen.

Künstliche Intelligenz als zweite Chance?

Die Informatisierung der Arbeit erwies sich vor allem deshalb als so zeitraubend, weil sie ohne das Fachwissen der tatsächlichen Anwender entwickelt wurde. Diese Lektion hat sich bezahlt gemacht. Heute arbeiten Unternehmen und Start-ups in diesem Bereich Hand in Hand mit Angehörigen des Gesundheitswesens an der Verbesserung ihres Alltags.  

Mit künstlicher Intelligenz und KI-basierter Software, die von ihren zukünftigen Nutzern konzipiert wird, kann der Behandlungsablauf optimiert und die Arbeit und die Produktivität der Ärzteschaft bei gleichzeitiger Minimierung des Risikos menschlicher Fehler gesteigert werden. Auch die finanziellen Kosten lassen sich besser unter Kontrolle halten.1-3

In Europa gehen wir davon aus, dass etwa 9 von 10 Krankenhäusern regelmäßig eine oder mehrere KI-Lösungen in vier wichtigen Bereichen einsetzen: Datenverarbeitung, Logistik, Diagnose und Pflege.4

Neue Generationen von Ärzten beteiligen sich an der Entwicklung digitaler Technologien, solange diese "Werkzeuge" vier Aspekte berücksichtigen: Zweckmäßigkeit, Benutzerfreundlichkeit, Anpassungsfähigkeit und Praktikabilität.

KI unterstützt die Informatisierung der Arbeit

Der Einsatz von Spracherkennung in Krankenhäusern stellt einen ersten großen Fortschritt dar. In mehreren Studien wurde der Vorteil dieser Lösungen5,6 untersucht, die sich zwar als weniger zuverlässig als die Abschrift durch einen Menschen herausstellten. Dank Deep Learning "lernen" diese KI-Systeme jedoch ständig hinzu und der Algorithmus passt sich nach und nach an die jeweilige Stimme an und verbessert sich selbst.

Auch im Bereich der Krankenakten ist künstliche Intelligenz auf dem Vormarsch und wird ständig weiterentwickelt. Der Pariser Krankenhausverband AP-HP setzt auf die IBM-Software Watson, um die Nutzung von Orbis, der mühsamen und umstrittenen elektronischen Patientenakte, zu erleichtern. Die KI analysiert, was auf dem Bildschirm des Anwenders passiert, und kann Empfehlungen geben oder in Form eines Chatbots intervenieren.7

Dieser "intelligente Assistent" leitet den Nutzer auf Wunsch an, indem er ihm Schritt für Schritt den Ablauf eines Verfahrens aufzeigt. Er kann aber auch von sich aus aktiv werden, um auf einen Fehler oder eine vergessene Eingabe hinzuweisen, die beispielsweise die Sicherheit des Patienten gefährden könnte.     

Hilfe in der Logistik und der Arbeitswelt

Der Abbau von psychischen Belastungen vor allem für Sanitäter wird auch durch Hilfe in der Logistik erreicht. Das türkische Bayındır-Krankenhaus in Ankara und das dänische Odense-Krankenhaus verfügen über KI-Strategien für standortübergreifende Inventarsysteme. Diese KIs überwachen die Verwaltung von Beständen und Bestellungen, die Organisation von Personen- und Materialtransporten und die Terminplanung für Operationssäle. 

Auf der Grundlage der OP-Planung löst die KI den Einkauf von perioperativem Material aus, reduziert Lagerkosten und verbessert die betriebliche Effizienz.3 Die KI übernimmt die Planung und Zuweisung von Aufgaben sowohl an die Logistikroboter als auch an die Mitarbeiter.

Krankenhausaufenthalte und Nachsorge intelligenter gestalten

Die Zahl der über 80-Jährigen in der Europäischen Union wird sich von 6,1 % im Jahr 2020 auf 12,5 % im Jahr 2060 verdoppeln. Damit wird der Bedarf an Krankenhäusern steigen, was eine bessere Auslastung der Krankenhausbetten erforderlich machen wird. 

Die Nachfrage nach medizinischer Versorgung ist eine schwankende Variable, die von der Jahreszeit (insbesondere in touristischen Regionen) und vom Standort des jeweiligen Krankenhauses abhängt. Die Steuerung der Patientenströme lässt sich durch KI erheblich verbessern. In einem Krankenhaus in Nordfrankreich wird seit 2021 der Algorithmus Calyps eingesetzt, mit dem sich Patientenströme eine Woche im Voraus vorhersagen lassen. Wird dieser Zeitraum auf 48 Stunden verkürzt, erreicht man eine Zuverlässigkeit von 95 %. 

Mit dem Siegeszug der sogenannten "Wearables" (also Smartwatches und Smartwear) und der damit einhergehenden systematischen Erfassung von Gesundheitsdaten dürfte auch die Telemedizin sehr schnell an Bedeutung gewinnen. Auch hier ist KI bereits in der Lage, enorme Datenmengen auszuwerten. 

In der Endokrinologie werden Algorithmen wie Hillo9 bereits eingesetzt, um Diabetespatienten telemedizinisch zu begleiten. Dekompensierte Patienten müssen nur noch ein oder zwei Tage im Krankenhaus verbringen, während die übrige Insulinanpassung mit Hilfe des Algorithmus zu Hause durchgeführt wird. Das bedeutet mehr freie Betten. 

Im italienischen Bozen kümmert sich eine KI um die Betreuung von Patienten mit Diabetes und Rheuma: Ein Algorithmus plant die verschiedenen Labortests, ärztliche Untersuchungen und Krankenhausaufenthalte. Auf diese Weise wird die Wartezeit für den Zugang zu medizinischen Leistungen verkürzt, was wiederum einen erheblichen Einfluss auf die Vermeidung von Komplikationen und Wiedereinweisungen in Krankenhäuser hat.3

Diagnoseunterstützung durch KI angesichts der Explosion von medizinischem Wissen 

1950 ging man davon aus, dass sich das medizinische Wissen alle 50 Jahre verdoppeln würde. Im Jahr 1980 hatte sich diese Zahl bereits auf sieben Jahre und im Jahr 2010 auf dreieinhalb Jahre verkürzt. Seit 2020 rechnet man nur noch mit 73 Tagen.10 Unser Gehirn kommt kaum noch hinterher!

Bei der ersten kommerziellen Anwendung der Watson-KI "Watson for Oncology" ging es um die Erstellung maßgeschneiderter Behandlungspläne für Krebspatienten. Die KI vergleicht die Informationen eines konkreten Patienten mit einer umfangreichen, wöchentlich aktualisierten Datenbank, die Millionen von Seiten medizinischer Literatur umfasst (u. a. medizinische Fachzeitschriften, Leitlinien, klinische Studien, Daten aus elektronischen Krankenakten, Behandlungsverläufe ähnlicher Patienten usw.). Mit jedem neuen Patienten wird Watson dabei genauer.11 Für die Erstellung eines individuellen Behandlungsplans ist dies eine Hilfe von unschätzbarem Wert. 

Daten für den öffentlichen Sektor   

Es gibt zahlreiche Beispiele für Partnerschaften zwischen dem öffentlichen und dem privaten Sektor. Müssen wir uns nun Sorgen machen, dass die öffentlichen Krankenhäuser von Unternehmen oder Start-ups beherrscht werden? Tatsächlich ermöglicht die Informatisierung von Patientendaten den Aufbau von Datenlagern in den Krankenhäusern selbst, mit denen dann die für ein Krankenhaus spezifischen KI-Algorithmen trainiert werden können. 

In Bern in der Schweiz hilft eine KI-Anwendung bei Entscheidungsfindungen in der Geburtshilfe während der Entbindung. Allein das Auslesen des Elektrokardiogramms reicht aus, um über einen Kaiserschnitt zu befinden. In der finnischen Stadt Kuopio werden Angioscans von einer KI ausgewertet, um Risikopatienten für Herzerkrankungen vorauszusagen. Darüber hinaus legt die KI auch die optimale Behandlung fest.3

In den letzten zwanzig Jahren haben sich die öffentlichen Krankenhäuser in Europa einem tiefgreifenden digitalen Wandel unterzogen. Trotz des unbestreitbaren Willens der Gesellschaft, sich der Digitalisierung zuzuwenden, erwiesen sich doch viele Versuche zur Digitalisierung als erfolglos oder sogar kontraproduktiv.  

Angesichts des chronischen Personalmangels und einer Welle von Burnout-Erkrankungen stellt künstliche Intelligenz eine zweite Chance für öffentliche Krankenhäuser dar. Wenn die Gelegenheit nicht verstreichen soll, müssen die Mitarbeiter im Medizinbereich den Kulturschock der Zusammenarbeit mit dem Privatsektor überwinden und die berechtigten Ängste vor neuen Technologien überwinden. 

Offen bleibt die Frage, ob künstliche Intelligenz allein die Attraktivität öffentlicher Krankenhäuser wiederherstellen kann. Es wäre ein ziemliches Wagnis, und medizinische und wirtschaftliche Studien auf diesem Gebiet sind noch rar und widersprüchlich.
 

Kurzbiographie zu Joris Galland

Joris Galland ist französischer Internist. Als leidenschaftlicher Anhänger neuer Technologien und der digitalen Transformation bloggt er auf esanum.fr über das Thema künstliche Intelligenz in der Medizin.

Referenzen:

  1. Yu K-H, Beam AL, Kohane IS. Artificial intelligence in healthcare. Nat Biomed Eng. 2018 (10):719–31.
  2. American Medical Association – 3 ways medical AI can improve workflow for physicians
  3. Weng SF, Vaz L, Qureshi N, Kai J. Prediction of premature all-cause mortality: A prospective general population cohort study comparing machine-learning and standard epidemiological approaches. PLOS ONE. 2019;14(3):e0214365.
  4. Klumpp M, Hintze M, Immonen M, Ródenas-Rigla F, et al. Artificial Intelligence for Hospital Health Care: Application Cases and Answers to Challenges in European Hospitals. Healthcare (Basel). 2021 Jul 29;9(8):961.
  5. Latif S, Qadir J, Qayyum A, Usama M, Younis S. Speech Technology for Healthcare: Opportunities, Challenges, and State of the Art. IEEE Rev Biomed Eng. 2021;14:342–56.
  6. Poder TG, Fisette J-F, Déry V. Speech Recognition for Medical Dictation: Overview in Quebec and Systematic Review. J Med Syst. 2018 Apr 3;42(5):89.
  7. LeMagIt - AP-HP mise sur Watson pour faire avaler la pilule ORBIS à son personnel - 2020
  8. Centre hospitalier de Valenciennes - 2020 - https://www.calyps.ch/fr/data-science-by-calyps-temoignage-du-centre-hospitalier-de-valenciennes/
  9. Hillo - 2021 - https://experiences.microsoft.fr/articles/intelligence-artificielle/hillo-ia-predire-variations-glycemie/
  10. Ensen P. Challenges and Opportunities Facing Medical Education. Trans Am Clin Climatol Assoc. 2011;122:48–58.
  11. Sun TQ, Medaglia R. Mapping the challenges of Artificial Intelligence in the public sector: Evidence from public healthcare. Gov Inf Q. 2019 Apr 1;36(2):368–83.