130/80 mm Hg: Braucht es wirklich eine neue Definition von Hypertonie?

Die neue US-Leitlinie definiert einen am Tage gemessenen Blutdruck von 130/80 mm Hg bereits als Hypertonie. Muss die Hypertonie nun auch in Europa neu definiert werden? – Eine spannende, doch möglicherweise unnötige Debatte beim ESC in München.

Eine spannende, doch unnötige Debatte

Die neue US-Leitlinie definiert einen am Tage gemessenen Blutdruck von 130/80 mm Hg bereits als Hypertonie. Buchstäblich über Nacht wurde jeder zweite US-Amerikaner plötzlich zum Hochdruckpatienten. Muss die Hypertonie nun auch in Europa neu definiert werden?

Bereits heute – ohne Neudefinition – ist die Hypertonie der Motor Nummer 1 für die kardiovaskuläre Mortalität weltweit. Als am weitesten verbreitete nicht-infektiöse Erkrankung verursacht der Bluthochdruck enorme Kosten für die Gesundheitssysteme.

Auf der anderen Seite gilt die Hypertonie als sehr leicht diagnostizierbar – zur Bestimmung genügt ein Blutdruckmessgerät. Ferner ist die Erkrankung in vielen Fällen vergleichsweise einfach zu behandeln. Es gibt mittlerweile eine große Bandbreite gut wirksamer Blutdruckmedikamente.

Definition ist wichtig, aber bedarf es einer Neudefinition?

Einen Schwellenwert für den Blutdruck zu definieren, ab dem ein Patient als behandlungsbedürftig gilt, ist sinnvoll und auch wichtig. Patienten lassen sich über ihren Blutdruck in Risikogruppen enteilen, Maßnahmen, wie Prävention oder Behandlung lassen sich besser planen und das Behandlungsziel – nämlich ein Blutdruck im Normbereich – lässt sich damit überhaupt erst formulieren.

Es ist bereits bekannt, dass oberhalb eines Blutdruckes von 120/80 mm Hg auch das Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen ansteigt. Dennoch stellt dieser Wert nicht die Grenze dar, ab welcher Hypertonie definiert wird. Die EU spricht in ihrer aktuellen Leitlinie ab einem Blutdruck von 140/90 mm Hg von Hypertonie. Abweichend davon geben die US-Leitlinien neuerdings einen Wert von 130/80 mm Hg vor. Ist eine solch "aggressive" Definition von Bluthochdruck wirklich nötig und zielführend?

Pro: Argumente für eine Neudefinition der Hypertonie

Die Hypertonie ist in erster Linie ein Blutdrucklevel, welches durch Behandlungen beeinflusst und durch Medikamente behandelt werden kann. Die frühere Prä-Hypertonie aus der Leitlinie wird daher heute in den erhöhten Blutdruck (120-129/< 80 mm Hg) und in die Hypertonie Grad 1 (130-139/80-89 mm Hg) unterteilt.

In Studien zeigte sich, dass bereits bei einem systolischen Blutdruck oberhalb von 130 mm Hg, ein bis zu 20 % höheres Schlaganfallrisiko besteht als bei Werten unterhalb 130 mm Hg. Im Allgemeinen gilt ab diesem Wert, dass je höher der Blutdruck ist, auch das Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse zunimmt. Darüber hinaus ist bekannt, dass der Blutdruck bei Patienten mit 130/80 mm Hg auf Behandlungen und Medikationen reagiert.

So verursacht beispielsweise eine nicht-pharmazeutische Intervention (z. B. Ernährungsumstellung, höhere Aktivität,…) bereits einen Abfall des Blutdruckes um circa 2-4 Einheiten. Die medikamentöse Therapie eines Blutdruckes von 130/80 mm Hg soll zudem das Risiko für Schlaganfälle und Demenz verringern.

Fazit: Patienten profitieren ab einem Blutdruck von 130/80 mm Hg von Interventionen, weshalb dieser Blutdruckwert als Hypertonie einzustufen ist.

Contra: Argumente gegen eine Neudefinition der Hypertonie

Die EU-Leitlinie bewertet die Hypertonie konservativer als die US-Leitlinie. EU-weit gilt ein Blutdruck von 130-139/85-89 mm Hg als hoch-normal, während ab 140/90 mm Hg eine Hypertonie vorliegt. Eine Neudefinition der Hypertonie würde sehr großen Einfluss haben auf die Patienten und auch auf die Kosten sowie die Versicherungsbranche. Welche Beweise gibt es also, die ein solches Vorgehen rechtfertigen?

Kurz gesagt: keine! Patienten mit hoch-normalem Blutdruck profitieren in Bezug auf Morbidität und Mortalität nicht von Behandlungsmaßnahmen, wie beispielsweise Blutdrucksenkern. Ganz im Gegenteil könnte ein solches Vorgehen gerade in älteren Patienten sogar schädlich sein. Die einzige Ausnahme bilden Patienten mit hoch-normalem Blutdruck und einem hohen Risiko (> 10 %) für kardiovaskuläre Erkrankungen.

Darüber hinaus zeigte die TROPHY-Studie, dass Lebensstiländerungen das Entstehen einer Hypertonie nur sehr wenig verlangsamen können.

Fazit: Es gibt derzeit keine überzeugenden Beweise dafür, dass Menschen mit einem hoch-normalen Blutdruck als Hypertoniker bezeichnet werden müssen, um sie blutdrucksenkend zu behandeln. Sollte also jeder Patient mit einem Blutdruck ab 130/80 mm Hg als Hypertoniker klassifiziert werden? Nein!

Was würde eine Neudefinition in der Praxis bedeuten?

Die Neudefinition würde die Mehrheit der Bevölkerung auch in der EU zu behandlungswürdigen Hypertonikern erklären. Dies ist jedoch medizinisch derzeit weder indiziert noch sinnvoll. Stellen Sie sich abschließend bitte die folgende Szene vor:

Arzt: Ihr Blutdruckwert liegt bei 130/80 mm Hg. Sie haben Bluthochdruck, genauso wie jeder zweite Europäer.
Patient: Na, wenn das fast alle haben, ist das doch nicht schlimm, oder? Gibt es dagegen gute Medikamente?
Arzt: Bevor wir mit Medikamenten beginnen… Was halten Sie von gesünderer Ernährung und mehr Bewegung?
Patient: Ich nehme lieber die Tablette. Danke, Doktor.

Ganz abwegig ist dieses Szenario leider nicht, denn aus Umfragen in den USA ist bekannt, dass mehr als 96 % der Menschen lieber eine Tablette einnehmen würden, wenn das ihr Leben um weitere fünf Jahre verlängern kann, als mehr Sport zu treiben.

Quelle:  
Must hypertension be redefined? Great debate. 27.08.2018. ESC München