Leitlinien praktisch angewandt: „Die adipöse IT-Fachfrau mit venöser Thromboembolie“

Eine adipöse IT-Fachfrau wird mit einer venösen Thromboembolie (VTE) diagnostiziert. Kann die orale Antikoagulation mit einem Nicht-Vitamin-K-abhängigen oralen Antikoagulans (NOAC) erfolgen und muss in diesem Fall die Dosierung aufgrund des starken Übergewichts angepasst werden?

Anhand eines fiktiven Patientenfalls möchten wir in dieser Artikelreihe auf eine besondere Situation in der klinischen Praxis eingehen und die Herangehensweise und mögliche leitliniengerechte Lösungen aufzeigen. Halten Sie in den nächsten Monaten Ausschau nach neuen Fällen!

Heute: „Die adipöse IT-Fachfrau mit der VTE“

Anamnese

Die 55-jährige Patientin stellt sich mit Beinschmerzen und einer Schwellung im linken Oberschenkel vor. Sie arbeitet als Software-Entwicklerin in einem großen IT-Unternehmen und übt damit eine sitzende Tätigkeit aus. Mit einem BMI (body mass index) von 35 kg/m2 ist sie adipös. In der Bildgebung wird eine Oberschenkelthrombose nachgewiesen und damit die Diagnose VTE abgesichert.

Zur initialen Antikoagulation bei VTE empfehlen aktuelle Leitlinien die Gabe von Nicht-Vitamin-K-abhängige orale Antikoagulanzien (NOACs) vor Vitamin-K-Antagonisten (VKA), wenn keine Besonderheiten vorliegen, die gegen NOACs sprechen.1–3 Doch können NOACs zur Antikoagulation bei adipösen VTE-Patient:innen eingesetzt werden? Und wenn ja, muss dann die Dosierung des NOACs aufgrund des stark erhöhten Körpergewichts angepasst werden?

Aktuelle Empfehlungen zu NOACs bei VTE und Adipositas

Laut der International Society on Thrombosis and Haemostasis (ISTH) sind bis zu einem BMI von 40 kg/m2 oder einem Körpergewicht von 120 kg alle NOACs geeignet.4 Geht der BMI oder das Gewicht allerdings über diese Werte hinaus, empfiehlt die ISTH Rivaroxaban oder Apixaban in der jeweiligen Standarddosierung – unabhängig von hohem BMI und Gewicht.4 Für Apixaban gibt es hierbei weniger unterstützende Daten als für Rivaroxaban.* Weitere Optionen sind Vitamin-K-Antagonisten (VKA), niedermolekulare Heparine (NMH) oder Fondaparinux. Dabigatran oder Edoxaban werden nicht empfohlen.4

Welche Daten gibt es zu Apixaban bei adipösen VTE-Patient:innen?

Auch in der Apixaban Fachinformation5 wird keine Dosisanpassung bei hohem Körpergewicht empfohlen. Die Apixaban-Exposition war bei einem Körpergewicht von ≥ 120 kg im Vergleich mit einem Körpergewicht von 65 bis 85 kg um etwa 30 % geringer.5 Allerdings wurde der Unterschied in der Apixaban-Exposition bei Patient:innen mit einem Körpergewicht von ≥ 120 kg und Patient:innen mit niedrigerem Körpergewicht in einer Post-hoc-Analyse6 der Studie AMPLIFY7 als nicht klinisch bedeutsam eingestuft.

Diese Post-hoc-Analyse untersuchte die Wirksamkeit und Sicherheit von Apixaban im Vergleich zu Enoxaparin/Warfarin in der Behandlung adipöser Patient:innen mit akuter symptomatischer VTE.6 Dazu wurden die Ergebnisse für Subgruppen mit verschiedenen BMI- oder Körpergewichts-Kategorien ausgewertet. Im Folgenden werden nur die Ergebnisse in verschiedenen BMI-Kategorien dargestellt.

In der Gesamtpopulation der Zulassungsstudie hatte sich unter Apixaban im Vergleich zu Enoxaparin/Warfarin bereits eine vergleichbare Rate an VTE-Rezidiven bzw. VTE-bedingtem Tod (primärer Wirksamkeitsendpunkt) sowie eine signifikant niedrigere Rate schwerer Blutungen§ (primärer Sicherheitsendpunkt) gezeigt7, siehe Box. Diese Ergebnisse waren in der Subanalyse unabhängig von der BMI-Kategorie zu beobachten, siehe Abb. 1.

Abb. 1: Ergebnisse für Apixaban vs. Enoxaparin/Warfarin im primären Wirksamkeitsendpunkt VTE-Rezidive oder VTE-bedingter Tod und im primären Sicherheitsendpunkt schwere Blutungen§ nach BMI-Kategorien, adaptiert nach einer Post-hoc-Analyse6 der Studie AMPLIFY7

Daten aus dem Versorgungsalltag ergänzen Profil bei adipösen VTE-Patient:innen8

Eine retrospektive Datenbankanalyse** analysierte Daten aus fünf US-amerikanischen Versicherungsdatenbanken von 155.119 Erwachsenen ohne oder mit Adipositas, bzw. krankhafter Adipositas†† sowie mit Verschreibungen für Apixaban (N = 60.786) oder Warfarin (N = 94.333) zur VTE-Behandlung innerhalb von 30 Tagen nach Diagnose. Das Follow-up betrug maximal 6 Monate.8 In der Interaktionsanalyse nach Adipositasgrad (normalgewichtig, adipös, krankhaft adipös††) zeigte sich für Apixaban vs. Warfarin kein Einfluss einer vorliegenden Adipositas auf die Endpunkte VTE-Rezidive‡‡ (p für Interaktion = 0,170) und schwere Blutungen‡‡,§§ (p für Interaktion = 0,647).

Fazit

Für die Behandlung von adipösen VTE-Patient:innen mit einem BMI von > 40 kg/m2 oder einem Körpergewicht von > 120 kg werden unter den NOACs Rivaroxaban und Apixaban empfohlen.4 Die Dosierung sollte dabei nicht angepasst werden.4 Apixaban bietet eine konsistent gute Wirksamkeit und ein geringeres Risiko für schwere Blutungen vs. Enoxaparin/Warfarin – auch bei adipösen VTE-Patient:innen.6–8

Daten aus der zulassungsrelevanten Phase-III-Studie AMPLIFY7:

Die Studie AMPLIFY7 schloss 5.395 Patient:innen mit akuter symptomatischer VTE ein und verglich Apixaban (10 mg 2 x tägl. bis Tag 7, gefolgt von 5 mg 2 x tägl. bis Ende Monat 6) mit Enoxaparin über mind. fünf Tage, überlappend gefolgt von Warfarin.7 In der Gesamtpopulation war

* Die AMPLIFY Post-hoc-Analyse wurde später veröffentlicht und ist daher nicht Bestandteil der ISTH-Empfehlung.
Gewichtsabhängige Dosierung gemäß Hersteller-Empfehlungen.
In der Post-hoc-Analyse6 wurden die Endpunkte in Subgruppen nach BMI (≤ 25, > 25 bis 30, > 30 bis 35, > 35 bis 40 und > 40 kg/m2) und Körpergewicht (≤ 60, > 60 bis < 100, ≥ 100 bis < 120 und ≥ 120 kg) untersucht. Hier werden nur die Ergebnisse nach BMI-Subgruppen dargestellt. Die Ergebnisse waren konsistent für Subgruppen nach Körpergewicht.6
§ Definition nach ISTH: Klinisch manifeste Blutungen, begleitet von mindestens einem dieser Kriterien: Hämoglobinabfall ≥ 2 g/dl, Transfusion von ≥ 2 Erythrozytenkonzentraten, Blutungen mit kritischer Lokalisation oder tödliche Blutungen.
** Beobachtungsstudien zeigen nur Assoziationen zwischen Variablen, keine Kausalität. ● Die Definition von VTE-Rezidiven basierte auf der stationären Diagnose nach ICD-9-/10-CM für VTE mit positiver Risikoabschätzung (26–93 %). Patient:innen mit anderen Hospitalisierungsgründen und VTE wurden dadurch nicht ausgeschlossen. ● Hämoglobinwerte waren nicht verfügbar, daher ist es theoretisch möglich, dass nicht alle schweren Blutungen erfasst wurden. ● Die ICD-Codes und der Algorithmus zur Identifikation von CRNM-Blutungen sind nicht in der Literatur validiert. Eine Fehleinschätzung aufgrund falscher Klassifizierung ist möglich. ● Das Poolen der Datensätze ermöglicht keinen Ausschluss von Duplikaten. Schätzungen in der Literatur gehen von nur 0,5 % Duplikaten aus.9 ● Wie bei jeder Versicherungsdatenbank besteht die Möglichkeit von Kodierungsfehlern und fehlenden Daten. ● Es wurden 52 Patient:innen mit VTE-Rezidiv während der Überbrückungsphase mit NMH vor Warfarin ausgeschlossen. ● Kommerzielle Datenbanken enthalten keine Informationen zu Todesfällen wie fatalen VTE-Rezidiven. ● Die Ergebnisse treffen unter Umständen nur auf die erfasste Population (privat krankenversicherte US-Amerikaner:innen) zu. ● Bestimmte Daten wie z. B. Laborparameter sind bei den Versicherungsdaten nicht verfügbar. ● In den Datensätzen sind Verschreibungen von Medikamenten während der Hospitalisierung nicht identifizierbar.
†† Adipös: BMI 30 bis <40 kg/m2; krankhaft adipös: BMI ≥ 40 kg/m2
‡‡ Die in der Studie von Cohen et al.8 verwendeten Definitionen für VTE-Rezidive und Blutungen unterschieden sich von jenen, die in der AMPLIFY-Studie genutzt wurden. Cohen et al.8 identifizierten VTE-Rezidive und schwere Blutungen anhand der ersten angegebenen Diagnose einer VTE oder schweren Blutung im Krankenhaus. Zur Codierung wurden u. a. ICD-Codes verwendet.
§§ Schwere Blutungen beinhalteten GI-, intrakranielle und schwere Blutungen an anderen Stellen.

Referenzen

  1. Kakkos SK et al. Editor's Choice - European Society for Vascular Surgery (ESVS) 2021 Clinical Practice Guidelines on the Management of Venous Thrombosis. Eur J Vasc Endovasc Surg 2021; 61(1):9–82.
  2. Stevens SM et al. Antithrombotic Therapy for VTE Disease: Second Update of the CHEST Guideline and Expert Panel Report - Executive Summary. Chest 2021; 160(6):2247–59.
  3. Konstantinides SV et al. 2019 ESC Guidelines for the diagnosis and management of acute pulmonary embolism developed in collaboration with the European Respiratory Society (ERS). Eur Heart J 2020; 41(4):543-603.
  4. Martin KA et al. Use of direct oral anticoagulants in patients with obesity for treatment and prevention of venous thromboembolism: Updated communication from the ISTH SSC Subcommittee on Control of Anticoagulation. J Thromb Haemost 2021; 19(8):1874–82.
  5. Fachinformationen Eliquis® 5 mg / 2,5 mg, aktueller Stand.
  6. Cohen AT et al. Efficacy, Safety, and Exposure of Apixaban in Patients with High Body Weight or Obesity and Venous Thromboembolism: Insights from AMPLIFY. Adv Ther 2021; 38(6):3003–18.
  7. Agnelli G et al. Oral apixaban for the treatment of acute venous thromboembolism. N Engl J Med 2013; 369(9):799–808.
  8. Cohen A et al. Effectiveness and Safety of Apixaban vs. Warfarin in Venous Thromboembolism Patients with Obesity and Morbid Obesity. J Clin Med 2021; 10(2).
  9. Broder MS et al. Treatments, complications, and healthcare utilization associated with acromegaly: a study in two large United States databases. Pituitary 2014; 17(4):333–41.