Ein außergewöhnlicher Internist wird 96

Am 28. November 2021 feierte Professor Dr. Ulrich Gottstein seinen 95. Geburtstag. Der Internist war Begründer des Evangelischen Hospitals für Palliativmedizin und des Hospizes in Frankfurt, leitete als Chefarzt die Medizinische Klinik des Bürgerhospitals Frankfurt und machte sich vor allem in den 80er Jahren einen Namen als engagierter Aktivist für Frieden und atomare Abrüstung mit der Organisation „International Physicians for the Prevention of Nuclear War“.

Bei der Dömling Autumn School Anfang Oktober 2021 hielt Professor Gottstein den Eröffnungsvortrag. Darin ging er nicht nur auf den Namensgeber dieser Veranstaltung, Dr. Frank Dömling, seinen ehemaligen Mitarbeiter am Frankfurter Bürgerhospital, ein. Er betonte auch, dass bei der Suche nach Erkrankungsursachen neben der körperlichen Untersuchung, Laborwerten und Bildgebung auch die Psyche der Patienten eine wichtige Rolle spiele.

Professor Gottstein, Sie können auf ein langes Menschen- und Internistenleben zurückschauen. Neben vielen beruflichen Stationen sind Sie bis heute auch sehr aktiv in der ärztlichen Friedensarbeit. Wie war Ihr medizinischer Lebenslauf?

Nach Rückkehr im Juli 1946 aus der Kriegsgefangenschaft und nachgeholtem Abitur, studierte ich Medizin in Berlin, Göttingen und Heidelberg, machte eine experimentelle pharmakologische Doktorarbeit, absolvierte 1952 das Staatsexamen und die Promotion und arbeitete dann wissenschaftlich zwei Jahre im Physiologischen Institut Heidelberg. Im April 1955 konnte ich bei meinem verehrten Lehrer Prof. Dr. Dr. G. Bodechtel mit meiner internistisch neurologischen Ausbildung an der II. Medizinischen Universitätsklinik München beginnen und mich 1960 habilitieren und Facharzt für Innere Medizin werden. Es begann dann eine außerordentlich fruchtbare klinischwissenschaftliche Tätigkeit auf dem Gebiet der Angiologie. Ich wurde Gründungspräsident der„Deutschen Gesellschaft für Angiologie“ und Mitbegründer internationaler wissenschaftlicher angiologischer Gesellschaften und insbesondere der Hirnkreislaufforschung, der Ursachen, Diagnostik und Therapie der Zirkulationsstörungen. Unter anderem wies ich damals nach, dass alle sogenannten gefäßerweiternden Medikamente keine zerebrae Vasodilatation und verbessernde Herz-Kreislauf-Wirkung hatten, und dass nur mittels der Hämodilution durch i. v. Infusionen eine Steigerung der Hirndurchblutung möglich war. Daraufhin wurde international verstärkt nach besseren Methoden geforscht, wie der Thrombolyse und nachfolgenden Verfahren. Meine Habilitationsarbeit „Der Hirnkreislauf unter dem Einfluss vasoaktiver Substanzen“ erschien als Monographie. 1962 wurde ich Leitender Oberarzt der I. Medizinischen Universitätsklinik Kiel, 1966 apl. Professor und ab 1971 umhabilitiert an die Universität Frankfurt, nachdem ich zum Chefarzt der Medizinischen Klinik des Bürgerhospitals gewählt worden war. Viermal stand ich auf Berufungslisten für ein in ternistisches Ordinariat, aber „das Schicksal“ wollte, dass ich dankbar und sehr zufrieden in meiner Chefarzt Position blieb, die Ende 1991 mit der Pensionierung endete. Es war eine sehr befriedigende und glückliche Zeit. Daneben war ich in Funktionen der Bundesärztekammer und 20 Jahre lang Fortbildungsbeauftragter der Hessischen Landesärztekammer.

Sie waren bereits 1954 erstmalig auf dem Internistenkongress, der einmalig damals gemeinsam mit der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie in München tagte. Nahmen Sie seit dem an allen Wiesbadener Internistenkongressen teil?

Ja, der Wiesbadener Internistenkongress war neben meinen wissenschaftlichen Symposien und Kongressen das jährliche Highlight. Seit 1961 habe ich fast jedes Jahr einen Vortrag gehalten, darunter dreimal aufgeforderte Referate im großen Saal. Ich genoss immer die Präsidentenreden, die festlichen Begleitkonzerte und die vielen hoch interessanten aktuellen klinisch-wissenschaftlichen Vorträge. Nun freue ich mich schon darauf, am Internistenkogress 2022 in Wiesbaden wieder dabei sein zu können, als dann 95-Jähriger, so Gott will.

Sie haben 1981/1982 auch die westdeutsche Sektion der International Physicians for the Prevention of Nuclear War (IPPNW) initiiert und dann jahrelang als Mitglied des Vorstandes, darunter anfangs auch des internationalen Direktoriums, ganz wesentlich mitbestimmt. Wie kam es, dass Sie neben Ihren vielen Tätigkeiten, sich nun auch für Kriegsverhütung, insbesondere eines Atomkriegs, und für Versöhnungsarbeit in den Kriegsgebieten Jugoslawiens und humanitär im Irak engagierten?

Seit den fünfziger Jahren hatten die Feindschaft zwischen den USA und der NATO einerseits und der Sowjetunion andererseits an Intensität zugenommen, auch die Zahl der Atomwaffenmächte. Insbesondere in den frühen Achtzigerjahren fanden fast jede Woche Atombomben-Testexplosionen in der Wüste von Nevada und in der Steppe Kasachstans statt. Der berühmte US-Kardiologe (Erfinder des Defibrillators) Prof. Bernard Lown aus Boston rief deshalb zur Gründung einer internationalen, über alle Blockgrenzen tätigen Ärzteorganisation, der IPPNW, auf und lud mich zu Besprechun gen ein. Obgleich ich mich nicht politisch betätigen wollte, überzeugte mich Lown, dass es unsere ärztliche Aufgabe sein müsse, die Regierungen der Welt vor der großen Gefahr eines millionenfachen Mordes zu warnen, und um wie andere Epidemien auch, diese„nuclear epidemic“ verhüten zu helfen. Da wurde mir klar, dass es nicht reicht, sich nur um die eigenen Patienten therapeutisch und Krankheiten vorbeugend zu bemühen, wenn doch gleichzeitig nichts gegen die genozidale Aufrüstung zur Vernichtung der Menschheit geschieht. Lown gelang es, seinen sowjetischen Kollegen, den Direktor des Herzforschungsinstituts in Moskau, der auch der Arzt der sowjetischen Nomenklatura war, von der Notwendigkeit einer internationalen parteipolitisch neutralen Ärzteorganisation zu überzeugen. Es gelang mühevoll auch die Zustimmung der sowjetischen Regierung zu gewinnen. Bereits 1984 erhielt zur weiteren Ermutigung die IPPNW den Friedenspreis der UNESCO und 1985 den Friedensnobelpreis in Oslo. Ich hielt damals für die IPPNW-Sektionen die Dankrede im Osloer Rathaus, und die Professoren Lown und Tschasow, die für die IPPNW den Friedensnobelpreis erhielten, die großen Reden auf der Festsitzung in der Universität.

Ist es richtig, dass die Regierung der Bundesrepublik, im Gegensatz zu den meisten anderen Regierungen, Ihnen und der IPPNW nicht gratulierten, sondern sogar Bundeskanzler Helmut Kohl und CDU-Generalsekretär Heiner Geissler mit Protesteingaben beim Nobelpreis-Komi tee verhindern wollten, dass der Nobelpreis an die IPPNW vergeben werde?

Uns wurde vorgeworfen, wir wären der„verlängerte Arm der Sowjetunion und des Weltkommunismus“, denn unser engster Alliierter, die USA, war gegen die Zuerkennung. Außerdem wurde uns vorgeworfen, dass insbesondere die europäischen IPPNW-Sektionen gegen die Hunderte von US-Atomminen und Atomraketen an der deutsch-deutschen Grenze protestierten. Wir klärten auf, dass im Fall eines Krieges die Vernichtung unseres deutschen Vaterlands in Ost und West die Folge sein würde, zumal auch in der DDR sowjetische Raketen stationiert waren. Wegen unserer Proteste wurden wir der antiamerikanischen Propaganda und Schwächung unserer Abwehrbereitschaft angeklagt, obgleich wir ja gegen sämtliche Atomwaffen waren, nicht nur gegen die amerikanischen. Die Verunglimpfungen, die wir erhielten, waren leider auch in den Medien, und sehr speziell gegen mich, da ich mich mit vielen großen Reden besonders einsetzte. Es gab glücklicherweise auch mutige und kluge Politiker, wie Bundespräsident Richard von Weizsäcker (der mir später das Bundesverdienstkreuz verlieh und mir auch später in Briefen seine volle Zustimmung aussprach), Willy Brandt und Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher, die uns brieflich gratulierten. Für mich persönlich war unser Engagement zur Verhütung eines Atomkriegs und unser Widerstand gegen eine Zwangsausbildung aller deutschen Ärzte zur „Erlernung der Triage bei massenhaftem Anfall von Atombombenopfern“, die innerhalb von maximal zwei Minuten stattfinden müsse, nicht nur aus ethischen, sondern auch aus christlichen Gründen intolerabel und deshalb abzulehnen. Die Medien und leider auch manche Ärztekammern haben uns beschuldigt, wir würden ärztliche Hilfe ablehnen! Später erkannte alle Ärzteschaft, dass die Beschuldigungen falsch und unsere Ansichten richtig waren. Im Jahr 2007 erhielt ich die wichtigste Auszeichnung, die die deutsche Ärzteschaft zu vergeben hat: Bundesärztepräsidenten Prof. Hoppe hat mir auf dem Deutschen Ärztekongress in Kiel die Paracelsus-Medaille verliehen. Mein Anti-Atomwaffen-Engagement geht auch heute noch weiter, nun auch als aktives Mitglied der 2017 ebenfalls mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichneten Internationalen Organisation zur Abschaffung aller Atomwaffen (ICAN- International Campaign to Abolish Nuclear Weapons), die eine „Tochter-Organisation“ der IPPNW ist. Auch diesmal war ich als einer der ICAN-Vertreter und Ehrenvorstandsmitglied der IPPNW in Oslo dabei.

Für die heutige Jugend stellt der Klimawandel sicher eine vergleichbare drohende Katastrophe dar wie der Atomkrieg in den frühen 1980er Jahren. Wie sehr besorgt machen Sie selbst die Folgen der Klimakrise, die ja auch die DGIM immer wieder thematisiert hat, zuletzt etwa auf dem Internistenkongress?

Wie alle vernünftigen Menschen bin ich sehr besorgt und blicke hoffnungsvoll auf die bald beginnenden energischeren Maßnahmen der Ampelkoalition, in der die Grünen mehr Einfluss haben werden. Auch die internationale IPPNW setzt sich global für eine Reduzierung der CO2- Entstehung und für den Erhalt der grünen Natur ein.

Gibt es etwas, das Sie jungen Medizinerinnen und Medizinern, die am Anfang Ihres Berufslebens stehen, aus Ihrem enormen medizinischen wie auch sozialen Erfahrungsschatz heraus mitgeben wollen?

Lasst Euch durch die lästige Bürokratie Euren so schönen Beruf nicht schlecht machen, und vergesst nie, dass der Mensch nicht nur aus Körperorganen besteht, sondern auch aus Seele. Erhebt nicht nur eine Organbezogene Anamnese, sondern führt, wenn immer möglich ein ruhiges Gespräch, um seelische Ursachen oder wichtige andere Mitursachen zu entdecken und in die Therapie zu integrieren – und engagiert Euch für Frieden, zum Beispiel in der IPPNW.

Erlauben Sie uns zum Abschluss noch eine ganz persönliche Frage: Wie haben Sie Ihren 95. Geburtstag verbracht?

Wir haben unser Glück und die Harmonie in unserer großen Familie mit unseren sechs Kindern und deren Ehepartnern bei einem leckeren Mittagessen in der Wohnung unseres ältesten Sohnes gefeiert. Mit unseren zwölf Enkelkindern werden wir im Frühling nachfeiern. Ich habe eine dankbare Rede gehalten, in der ich Gottes Hilfe nicht vergessen habe.