Osmophobie und Migräne: Wenn Gerüche den Kopfschmerz auslösen
Migräne ist eine weitverbreitete neurologische Erkrankung, die von starken Kopfschmerzattacken und neurologischen Einschränkungen wie Gesichtsfelddefiziten und sensorischen Störungen begleitet werden kann. Charakteristisch für Migräne ist die veränderte Wahrnehmung einer Vielzahl von Sinnesreizen, die sich in begleitender Photophobie, Phonophobie und Osmophobie äußert.
Sensibilisierung für Gerüche, funktionelle und morphologische Effekte
Die Sensibilisierung für Gerüche kann für Patientinnen und Patienten mit Migräne im Alltag bedeutsam sein. Verschiedene Untersuchungen weisen darauf hin, dass Patientinnen und Patienten mit Migräne auch außerhalb der Attacken ein anderes sensorisches Empfinden haben als Gesunde. So konnten beispielsweise durch quantitative Messungen des geräuschinduzierten Schmerzes interiktal eine Sensibilisierung für auditive Reize bei Migränepatientinnen und -patienten nachgewiesen werden2.
Eine aktuelle Studie zeigt zudem, dass bei 31,9 % der Betroffenen mit Migräne interiktal eine Hypersensitivität für Gerüche besteht3. Zudem scheinen Betroffene mit interiktaler Osmophobie eine höhere Anfallshäufigkeit und eine höhere Anzahl von geruchsinduzierten Migräneanfällen zu haben4. Diese Ergebnisse unterstreichen die Bedeutung von Gerüchen bei Migräne und erfordern eine entsprechende Berücksichtigung in Diagnostik und Therapie.
Eine experimentelle Untersuchung mit Geruchsstimulation während eines akuten Migräneanfalls und gleichzeitiger fMRT-Untersuchung ergab eine erhöhte Aktivität der rostralen Pons. Diese Struktur spielt eine wichtige Rolle in der Migränepathophysiologie und der trigemino-nozizeptiven Bahn. Eine MRT-morphologische Analyse des Bulbus olfactorius Volumens bei Patientinnen und Patienten mit Migräne zeigte eine Atrophie dieses Teils des Zentralnervensystems. Die Atrophie war besonders auffällig bei Personen, die zusätzlich an Osmophobie leiden. Daraus lässt sich erneut schließen, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Geruchssinn und der Migräne gibt.
Häufigkeit der Osmophobie
Die Prävalenz von Osmophobie bei Migräne wird als äußerst hoch angesehen und variiert in veröffentlichten Daten zwischen 24,7 % und 95,5 %7, 8. Unsere eigenen Interviewdaten zeigen, dass 38,1 % der Patientinnen und Patienten mit Migräne eine Hypersensitivität für Gerüche vor der Attacke aufweisen. Während der Attacke berichten sogar 61,9 % der Betroffenen von Osmophobie3. Die am häufigsten genannten Gerüche, die eine Abneigung, Schmerzverstärkung oder Triggerung einer Attacke zur Folge hatten, waren Parfüm, Lebensmittelgerüche und Rauch. Zusätzlich ergab unsere Untersuchung einen deutlichen Zusammenhang zwischen einer hohen migränebedingten Einschränkung im Alltag und einer Geruchsüberempfindlichkeit. Diese Ergebnisse untermauern die Bedeutung einer gezielten Behandlung von Osmophobie bei Migräne.
Dauer der Migräne, olfaktorische Sensibilisierung und Chronifizierung
Es ist auffällig, dass Patientinnen und Patienten, deren Erkrankung schon länger andauert, häufiger an Osmophobie leiden. Dies würde die Theorie unterstützen, dass eine längere Krankheitsdauer zu einer höheren sensorischen Sensibilisierung und somit einem erhöhten Risiko einer Chronifizierung führt. Untersuchungen an Betroffenen mit Migräne haben gezeigt, dass sie nicht nur eine gemeinsame Sensibilisierung gegenüber Licht, Lärm und Geruch aufweisen, sondern auch einen klaren Zusammenhang zwischen sensorischen Überempfindlichkeiten und migränebedingter Behinderung aufzeigen9.
Weitere Untersuchungen belegen, dass Osmophobie und kutane Allodynie, ein Marker für zentrale Sensibilisierung, bei Patientinnen und Patienten mit chronischer Migräne häufiger auftreten als bei Betroffenen mit episodischer Migräne10.
Gemäß der internationalen Klassifikation von Kopfschmerzerkrankungen gilt eine chronische Migräne (cM) als gegeben, wenn innerhalb von drei Monaten mindestens 15 Kopfschmerztage aufgetreten sind, wovon an mindestens acht Tagen monatlich Migränemerkmale vorliegen11. Der Chronifizierung der Migräne liegen unterschiedliche Risikofaktoren zugrunde, wie etwa die Häufigkeit von Migräneattacken, der übermäßige Einsatz von Analgetika und das Vorhandensein von komorbiden Schmerzen. Das Konzept der Migränestadien beschreibt den fließenden Übergang von einer niedrigen zu einer hohen Häufigkeit episodischer Migräne und chronischer Migräne (0-9; 10-14 bzw. ≥ 15 Kopfschmerztage pro Monat)12.
Aktuelle Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass Komorbiditäten und Umweltfaktoren, und nicht genetische Faktoren, den Schlüssel zur Chronifizierung bei Migränepatientinnen und -patienten darstellen13. In Übereinstimmung damit treten bei chronischer Migräne Depressionen und Angstzustände häufiger auf als bei episodischer Migräne, und insbesondere das Vorhandensein einer komorbiden Depression ist mit einem erhöhten Risiko für die Entwicklung einer chronischen Migräne verbunden14.
Ausblick
Eine vielversprechende Möglichkeit zur sensorischen Desensibilisierung bei Migränepatientinnen und -patienten könnte eine Riechtherapie darstellen. Erste Studien zeigen, dass ein strukturiertes Training mit verschiedenen Gerüchen positive Auswirkungen auf die Beeinträchtigung durch Kopfschmerzen bei Kindern und Jugendlichen hat und auch das Schlafverhalten verbessern kann. Eine regelmäßige Anwendung von Düften kann außerdem die Riechfunktion verbessern und die Schmerzwahrnehmungsschwelle erhöhen, was auf eine Desensibilisierung für Schmerz hinweist. Um spezifische Effekte zu bestätigen und mögliche Auswirkungen auf die Chronifizierung von Kopfschmerzen zu prüfen, sind jedoch weitere Untersuchungen erforderlich.
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