Pille schwächt Libido – Mythos oder Wahrheit?

Die Pille wird häufig mit einer verminderten Libido in Zusammenhang gebracht. Ist diese Einschätzung durch die verfügbare Evidenz gedeckt?

„Ich wusste zwar immer, dass Sex zu einer Beziehung gehört, aber wirklich Spaß daran hatte ich damals nicht. Auch wenn ich meinen damaligen Partner sehr geliebt habe, hatte ich einfach kein Verlangen nach Sex. Dass das an der Pille lag, konnte ich zu der Zeit nicht erahnen.“ So beginnt ein Beitrag aus dem letzten Jahr auf generation-pille.com, dem „Blog rund um die Frauengesundheit“. Gibt man die Begriffe „Pille“ und „Libido“ in Google ein, erscheint dieser Beitrag als einer der ersten in der Trefferliste.

Brisantes Thema für die gynäkologische Praxis

Die Frage, ob die Pille das eigene Lustempfinden beeinträchtigt, ist für viele Frauen (und ihre Lebenspartner!) ein hochrelevantes Thema. Unter Überschriften wie „Pille abgesetzt: Mehr Lust auf Sex > Mythos oder Wahrheit??“ sammeln sich in Internetforen die Beiträge zahlreicher tatsächlich oder vermeintlich Betroffener.

Die Brisanz der Thematik spiegelt sich auch in der gynäkologischen Praxis wider – zumindest, wenn man danach fragt. „Mindestens 50 Prozent meiner Patientinnen sind betroffen. Das wird vor allem deutlich, wenn man Frauen im Beratungsgespräch explizit darauf anspricht", wird der Wiener Gynäkologe Dr. Andreas Nather in einem schnell auffindbaren Artikel auf vice.com zitiert. Dort heißt es immerhin auch: „Fakt bleibt, dass die Verträglichkeit von Verhütungsmitteln von Frau zu Frau sehr unterschiedlich sein kann. Wichtig ist es, den eigenen Körper zu beobachten und gegebenenfalls mit der Ärztin oder dem Arzt alternative Verhütungsmöglichkeiten zu besprechen.“

Eigenes Kapitel dazu in der neuen S3-Leitlinie

Schaut man sich die neue S3-Leitlinie1 zur hormonellen Empfängnisverhütung an, wird klar, dass sich die Studienlage alles andere als ausreichend und eindeutig darstellt (siehe Infobox). Explizit zitiert wird ein großer systematischer Review2, für den 2.155 Studien aus den Jahren 1975 bis 2011 gesichtet wurden. In die Auswertung flossen am Ende 36 Untersuchungen aus Europa, Nordamerika und Asien ein. Insgesamt über 8.400 KOK-Anwenderinnen hatten dabei mittels Fragebogen Auskunft über ihre Sexualität gegeben. Das Ergebnis:

Zwar ist unter KOK-Einnahme in den meisten Fälle eine Verringerung des freien/aktiven Testosterons und ein Anstieg des SHGB-Spiegels zu beobachten. Was diese hormonellen Effekte allerdings für die Libido bedeuten, ist unklar: Bei der Hälfte der Studien zeigte sich ein Zusammenhang zwischen sexueller Appetenz und Testosteron-Spiegel, jedoch in heterogener und inkonsistenter Weise.1

Zunahme und Abnahme der Libido möglich, keine Veränderung am häufigsten

Alles ist offenbar möglich, wenn es um die Veränderung der weiblichen Sexualität und Lust durch hormonelle Kontrazeptiva geht: Zunahme, Abnahme oder – am häufigsten – keine Veränderung. Der Evidenzgrad des resultierenden Leitlinien-Statements in Kapitel 5.7 wird mit „2-“ gemäß dem angewandten SIGN-Klassifikationssystem bewertet. Das bedeutet, dass es sich bei der zugrundeliegenden Evidenz vor allem um Fall-Kontroll- oder Kohortenstudien mit einem hohen Risiko für systematische Fehler (Bias) oder Verzerrungen (Confounding) handelt. Die Kausalität der Ergebnisse steht dabei in Frage.1

Die Hormone der Pille sind nur einer von vielen Einflussfaktoren

Verwunderlich ist das nicht, schließlich hängen die gelebte Sexualität und die Libido von vielfältigen Faktoren ab, wie z. B. Alter der Frau, Lebenssituation, Qualität und Dauer der Partnerschaft sowie Parität und Kinderwunsch, um einige der relevantesten zu nennen. Zudem ist die Beurteilung der eigenen sexuellen Appetenz eine recht subjektive Angelegenheit. Die deutschen Leitlinienautoren verweisen auf die thematische „Zurückhaltung“ in aktuellen internationalen Guidelines und führen diese auf die „schlechte Studienlage“ zurück. Ihr Fazit: „Berater sollten wissen, dass KOK negative Effekte haben können auf die weibliche Sexualität und sollten die Frauen entsprechend beraten.“1

„Schlechte Studienlage“, aber Beratung erforderlich

Auf nähere Hinweise zur Beratung verzichten die Experten allerdings an dieser Stelle. Das dürfte, zumindest was einen möglichen Präparate-Wechsel betrifft, ebenfalls an der mangelnden Evidenz liegen. In der zum Statement gehörenden Leitlinien-Empfehlung (siehe Infobox) heißt es, dass es „keinen eindeutigen Zusammenhang zwischen einer bestimmten Pillen-Zusammensetzung bzw. deren Wirkung auf Testosteron/SHBG und der Libido“ gibt.1

Vor fast einem Jahrzehnt nahmen an einer online-basierten Umfrage3 unter Einbeziehung des Female Sexual Function Index (FSFI) 1.086 Medizinstudentinnen teil. Von ihnen gaben 752 an, orale Kontrazeptiva einzunehmen. Während ihre FSFI-Werte im Allgemeinen niedriger als die der Nicht-Anwenderinnen lagen, unterschieden sie sich innerhalb der Gruppe der KOK-Anwenderinnen nicht signifikant. Demnach wirkten sich weder der Gehalt an androgenen oder antiandrogenen Gestagenen noch die Dosierung der EE-Komponente (20 µg, 30 µg, > 30 µg) messbar auf den Libidoverlust aus.

Diese Untersuchung der Universitätsfrauenklinik Heidelberg wird vom Hamburger Gynäkologen Prof. Christoph Keck in einem kürzlich in Gynäkologie + Geburtshilfe erschienenen Artikel4 zitiert. Keck führt zugleich den Wechsel des Präparats, des Einnahmemodus (24/4 versus 21/7) oder der Applikationsform (Vaginalring/Intrauterinpessar) als bewährte Option an, wenn die Anwenderin über ein vermindertes Lustempfinden klagt.

Pragmatisches Vorgehen in drei Schritten

Diese Erfahrung aus der täglichen Praxis wird durch einen 2013 im Frauenarzt publizierten Beitrag5 gestützt, der sich mit diversen Studienergebnissen zum Einfluss unterschiedlicher Konzepte der hormonalen Kontrazeption auf die Libido befasst. Für die frauenärztliche Praxis wird schlussfolgernd bei Störungen der sexuellen Appetenz ein pragmatisches Vorgehen in drei Schritten empfohlen:

  1. Erheben einer angemessenen Sexualanamnese und diagnostisches Gespräch zum Ausschluss anderer Faktoren, die für unerwünschte Einflüsse auf die Sexualität verantwortlich sein könnten (z.B. Partnerkonflikte, Stress, Ängste, Krankheiten Medikamente);
  2. KOK-Auswahl mit Bevorzugung von E2 oder niedrig dosiertem EE als Estrogen und LNG als Gestagen; eventuell vaginale Applikation;
  3. FSFI-Fragebogen zur Objektivierung der kontrazeptionsbedingten Effekte.

Hinweise zur Libido in der Fachinformation: evidenzgesichert?

Ein aktueller spanischer Review6 kommt, wie andere Publikationen aus jüngster Zeit, zu keinen grundlegend neuen Erkenntnissen. Interessant ist der Hinweis, dass der Einfluss von KOK auf die weibliche Sexualität eben nicht so klar ist, auch wenn er in den Fachinformationen der Pillenpräparate erwähnt wird. Tatsächlich variieren dort die in der Nebenwirkungstabelle unter „Psychiatrische Erkrankungen“ aufgeführten Angaben zu möglichen Veränderungen der Libido bezüglich Ausprägung und Häufigkeit. Drei Beispiele:

Schließlich sollten mit der Anwenderin bei Bedarf auch die Möglichkeiten der nicht-hormonalen Kontrazeption besprochen werden. Der Österreichische Verhütungsreport 2015 merkt dazu an, „dass die häufig getätigte Aussage, es gäbe viele und wirksame Alternativen zu hormonellen Verhütungsmethoden, ein Mythos ist.“7

Hormonelle Kontrazeption und Libido – das sagt die S3-Leitlinie (Kap. 5.7)1:

Referenzen:

  1. S3-Leitlinie Hormonelle Empfängnisverhütung. AWMF-Registernummer: 015/015. Version 1.0, Stand: August 2019. https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/015-015.html
  2. Burrows LJ et al. The effects of hormonal contraceptives on female sexuality: a review. J Sex Med 2012;9(9):2213-23
  3. Wallwiener M et al. Effects of sex hormones in oral contraceptives on the female sexual function score: a study in German female medical students. Contraception 2010;82(2):155-9
  4. Keck C. Die Hormone der Lust. Endokrine Aspekte bei Libidostörungen. Gynäkologie + Geburtshilfe 2019;24(4):22-8
  5. Ahrendt HJ. Hormonale Kontrazeption. Lustkiller Pille? Frauenarzt 2013;54: 358-65
  6. Casado-Espada NM et al. Hormonal Contraceptives, Female Sexual Dysfunction, and Managing Strategies: A Review. J Clin Med 2019;8(6):908. doi:10.3390/jcm8060908
  7. Österreichischer Verhütungsreport 2015 (verhuetungsreport.at; Zugriff am 14.11.2019)

Abkürzungen:
DNG = Dienogest
E2 = Estradiol
EE = Ethinylestradiol
FSFI = Female Sexual Function Index
KOK = kombinierte orale Kontrazeptiva
LNG = Levonorgestrel
SHBG = Sexualhormon-bindendes Globulin
SIGN = Scottish Intercollegiate Guidelines Network