Pille und Suizidalität: keine Belege für Kausalzusammenhang
Noch immer findet sich in Beipackzetteln und Fachinformationen hormoneller Kontrazeptiva ein Warnhinweis auf ein mögliches Suizidrisiko. Ein kausaler Zusammenhang ist jedoch bis heute nichtnachgewiesen. Rückblick auf eine langjährige Debatte.
Warnhinweis trotz fehlender Kausalität
Im November 2018 hat das BfArM (Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte) in einer Mitteilung über die Einführung eines Warnhinweises zur Suizidalität in den Beipackzetteln und Fachinformationen aller hormonellen Kontrazeptiva informiert. Grund war ein Signalverfahren des Pharmakovigilanz-Ausschusses (PRAC) der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) zu einem möglichen Risiko von Suizid und Suizidversuch bei der Anwendung hormoneller Kontrazeptiva.1
Fazit des Expertengremiums: Nach bisheriger Datenlage ist kein eindeutiger Kausalzusammenhang zu ermitteln. Da aber die Nebenwirkung Depression als bekannt gilt, soll auch auf die Suizidalität als mögliche Folge einer Depression hingewiesen werden.
Am 21. Januar 2019 erschien dazu ein Rote-Hand-Brief.2 Der Warnhinweis besteht bis heute (Stand: Mai 2025).
Ein Blick in die Fachinformation3
Der Warnhinweis zu hormonellen Kontrazeptiva lautet folgendermaßen:
4.4 Besondere Warnhinweise und Vorsichtsmaßnahmen für die Anwendung
Psychiatrische Erkrankungen
Depressive Verstimmung und Depression stellen bei der Anwendung hormoneller Kontrazeptiva allgemein bekannte Nebenwirkungen dar (siehe Abschnitt 4.8). Depressionen können schwerwiegend sein und sind ein allgemein bekannter Risikofaktor für suizidales Verhalten und Suizid. Frauen sollte geraten werden, sich im Falle von Stimmungsschwankungen und depressiven Symptomen – auch wenn diese kurz nach Einleitung der Behandlung auftreten – mit ihrem Arzt in Verbindung zu setzen.
4.8 Nebenwirkungen
Auszug aus der tabellarischen Auflistung der Nebenwirkungen:
Systemorganklasse
(MedDRA v. 12.0)
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Häufig
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Gelegentlich
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Selten
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Nicht bekannt
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Psychiatrische Erkrankungen
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depressive Verstimmung
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Depression, mentale Störungen, Schlaflosigkeit, Schlafstörungen, Aggression
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Stimmungsveränderungen, verminderte Libido, erhöhte Libido
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Auslöser für das Signalverfahren: eine dänische Kohortenstudie
Auslöser des Bewertungsverfahrens und der resultierenden PRAC-Empfehlung waren die Ende 2017 publizierten Ergebnisse einer dänischen Beobachtungsstudie.4 Für die prospektive Kohortenstudie wurden die Daten von fast 500.000 Däninnen aus den Jahren 1996 bis 2003 erfasst. Die eingeschlossenen Frauen wurden erst während der Studienlaufzeit 15 Jahre alt und hatten zuvor weder eine psychiatrische Diagnose erhalten noch Antidepressiva oder hormonelle Kontrazeptiva eingenommen.
Die Altersspanne reichte von 15 bis 33 Jahre, das mittlere Alter betrug 21 Jahre. Im durchschnittlich 8,3 Jahre währenden Beobachtungszeitraum wurden 6.999 erste Suiziddversuche und 71 vollendete Suizide registriert.
Datenanalyse ergibt erhöhtes relatives Risiko, differenziert nach Applikationsform
Der Anteil der Frauen, die aktuell oder bis vor 6 Monaten hormonelle Kontrazeptiva einnahmen, lag bei 54 %. Im Vergleich mit Frauen, die nicht hormonell verhüteten, war das relative Risiko für einen Suizidversuch zweifach und für einen vollendeten Suizid dreifach erhöht (1,97 bzw. 3,08). Das höchste relative Risiko war unter Adoleszenten zu beobachten. Für erstmalige Suizidversuche zeichnete sich nach zweimonatiger Kontrazeptiva-Einnahme ein Häufigkeitsgipfel ab.
Für die verschiedenen Darreichungsformen ermittelten die Wissenschaftler unterschiedliche Risikoabschätzungen für einen Suizidversuch:
- 1,91-fach für orale Kombinationspräparate
- 2,29-fach für orale Gestagenpräparate
- 2,58-fach für Vaginal-Ringe
- 3,28-fach für Hormonpflaster
Das Forscher-Team um den Gynäkologen Prof. Oejvind Lidegaard vom Rigshospitalet der Universität Kopenhagen beschäftigt sich seit längerem mit dem Thema und wertet dafür die in Dänemark verfügbaren nationalen Registerdaten aus. In einem Ende 2016 publizierten Paper5 berichtete die Gruppe über einen Zusammenhang zwischen der Verschreibung hormoneller Kontrazeptiva und der nachfolgenden Erstverordnung von Antidepressiva und Stellung der Diagnose Depression vor allem bei jungen Frauen.
Ändert sich durch diese Studiendaten etwas?
Finden die möglichen psychischen Auswirkungen der hormonellen Kontrazeption bis hin zum Suizidrisiko zu wenig Beachtung, wie die dänischen Autoren meinen? Müssen das öffentliche und das ärztliche Bewusstsein dafür geschärft werden?
Vom fachlichen Standpunkt aus gesehen wohl kaum. Eine epidemiologische Studie kann keine Kausalität beweisen, und die verfügbare Datenlage bietet alles andere als ein klares Bild. 2016 kamen Gynäkologen von der Ohio State University (Columbus, USA) in einem Review6 zu folgendem Schluss bezüglich kombinierter hormoneller Kontrazeptiva (KOK): Bis mehr prospektive Daten vorliegen, sollten sich die Ärzte bewusst machen, dass derartige Nebenwirkungen selten sind und KOK weiterhin beruhigt („with confidence“) verordnet werden können.
Ein Stück solcher prospektiven Evidenz lieferte beispielsweise 2017 eine randomisierte kontrollierte Studie7 mit einem gängigen Kombi-Präparat (Levonorgestrel/Ethinylestradiol): Zwar fanden sich in der schwedischen Untersuchung signifikante Hinweise auf ein vermindertes Wohlbefinden der Anwenderinnen, nicht aber auf eine depressive Symptomatik.
Und das Autorenteam aus Ohio legte 2018 einen weiteren systematischen Review8 vor, diesmal mit Blick auf rein Gestagen-basierte Verhütungsmittel. Die Forscher identifizierten für ihre Analyse 26 geeignete Veröffentlichungen, darunter fünf randomisierte kontrollierte Studien, elf Kohorten- und zehn Querschnittsstudien. Ihre Schlussfolgerung: Obwohl es „in der Community“ die Wahrnehmung einer Zunahme von Depressionen nach Beginn einer Gestagen-basierten Kontrazeption gebe, spreche die vorherrschende Evidenz nicht für eine „Assoziation auf der Grundlage validierter Maßnahmen“.
Dänische Studien: Berufsverband und Fachgesellschaft beziehen klar Stellung
Kurz nach Veröffentlichung des Rote-Hand-Briefs äußerten sich die gynäkologische Fachgesellschaft (DGGG) und der Berufsverband (BVF), vereint im German Board and College of Obstetrics and Gynecology (GBCOG), mit einer Pressemitteilung zur Causa.9 Der Tenor: Die beiden dänischen Kohortenstudien4,5, auf die sich der für das BfArM ausschlaggebende Warnhinweis der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) stützt, belegen allenfalls einen zeitlichen, aber keinen kausalen Zusammenhang zwischen der Anwendung hormoneller Kontrazeptiva und einem erhöhten Risiko für Depression und Suizid.
Auch die EMA sieht aufgrund der Limitierung der verfügbaren Daten keinen eindeutigen Kausalzusammenhang, möchte aber mit dem Warnhinweis „Angehörige der Heilberufe dafür sensibilisieren, ihre Patientinnen entsprechend aufzuklären“ und die Anwenderinnen „informieren, ihren Arzt aufzusuchen, sobald Stimmungsänderungen und depressive Symptome auftreten.“1
Kohortenstudie gibt Entwarnung: kein Hinweis auf erhöhte Suizidalität unter hormoneller Kontrazeption
Neuere Daten geben Entwarnung. Zuletzt zeigte eine im Jahr 2024 veröffentlichte finnische Kohortenstudie mit knapp 600.000 Teilnehmerinnen, dass die aktuelle Einnahme hormoneller Kontrazeptiva nicht mit einem erhöhten Risiko für Suizidversuche bei Frauen im gebärfähigen Alter verbunden war.10 Bei Frauen ohne psychiatrische Vorgeschichte, die hormonell verhüteten, war das Risiko sogar signifikant geringer als bei Nichtanwenderinnen (OR 0,73, 95 % KI 0,58–0,91). Zudem waren Frauen mit einem Suizidversuch in der Vergangenheit seltener aktuelle Anwenderinnen hormoneller Kontrazeptiva (15,6 % gegenüber 22,2 %). Insbesondere die Einnahme von Desogestrel/Ethinylestradiol (0,9 % vs. 2,0 %, p = 0,045) und von Drospirenon/Ethinylestradiol (3,7 % vs. 6,3 %, p = 0,005) war bei Frauen mit Suizidversuchen seltener als in der Kontrollgruppe.
Fazit für die Praxis:
- Das Wechselwirkungspotenzial zwischen Sexualhormonen und Psyche ist bekannt. Deshalb sollte bei der Kontrazeptiva-Verordnung und der gynäkologischen Betreuung die seelische Gesundheit der Anwenderinnen immer miterfasst und berücksichtigt werden.
- Bei einer Depression, die als seltene Nebenwirkung der hormonellen Verhütung zu berücksichtigen ist, steigt die Gefahr suizidaler Handlungen. Ein entsprechender Hinweis wurde auf behördliche Veranlassung in Beipackzettel und Fachinformation von hormonellen Kontrazeptiva aufgenommen.
- Die Risikobewertung der Experten ersetzt nicht die individuelle und ausführliche Nutzen-Risiko-Abwägung in Zusammenarbeit mit der Anwenderin. Dabei ist die empathische und umfassende Verhütungsberatung, auch über alternative Optionen, eine essenzielle und mitunter herausfordernde Aufgabe in der gynäkologischen Praxis.
- Ein kausaler Zusammenhang zwischen hormoneller Verhütung und gesteigerter Suizidgefahr ist bisher nicht belegt. Wissenschaftlich unkorrekte Schlagzeilen wie „Pille fördert Suizid“ in Publikums- und auch Fachmedien sind für die Informiertheit der verhütungsinteressierten Frauen nicht gerade zuträglich. Vielmehr bläst sie noch mehr Wind in die zu beobachtende „Anti-Hormon-Bewegung“, die präventive gynäkologische Aufklärung zu einer besonders wichtigen Angelegenheit macht.
- PRAC recommendations on signals. EMA/PRAC/689235/2018. (S. 6) (Zugriff am 21.05.2021).
- Rote-Hand-Brief zu hormonellen Kontrazeptiva: Neuer Warnhinweis zu Suizidalität als mögliche Folge einer Depression unter der Anwendung hormoneller Kontrazeptiva. Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), 21.01.2019.
- Fachinformation Aristelle 0,03 mg/2 mg Filmtabletten. Stand: Oktober 2022.
- Skovlund CW et al. Association of Hormonal Contraception With Suicide Attempts and Suicides. Am J Psychiatry 2018; 175(4): 336-342.
- Skovlund CW et al. Association of Hormonal Contraception With Depression. JAMA Psychiatry 2016; 73(11): 1154-62.
- Schaffir J et al. Combined hormonal contraception and its effects on mood: a critical review. Eur J Contracept Reprod Health Care. 2016; 21(5): 347-55.
- Zethraeus N et al. A first-choice combined oral contraceptive influences general well-being in healthy women: a double-blind, randomized, placebo-controlled trial. Fertil Steril 2017; 107(5): 1238-45.
- Worly BL et al. The relationship between progestin hormonal contraception and depression: a systematic review. Contraception 2018; 97(6): 478-89.
- German Board and College of Obstetrics and Gynecology (GBCOG). Selbstmord durch Pille – das ist falsch. Pressemitteilung vom 25.01.2019. (Zugriff am 21.05.2021).
- Toffol E et al. Use of systemic hormonal contraception and risk of attempted suicide: a nested case–control study. European Journal of Epidemiology 2024; 39: 1013–1022.