genomDE: Die Ganz-Genom-Sequenzierung startet

Ab dem 1. April entsteht eine neue Versorgungsrealität für Patienten mit Krebs und seltenen Krankheiten: Bald soll eine deutschlandweit flächendeckende, systematische Ganz-Genom-Diagnostik möglich sein.

Detektion seltener Erkrankungen dank genomDE bald flächendeckend

Binnen weniger Jahre könnte in Deutschland eine im internationalen Vergleich einmalige flächendeckende Struktur für den Einsatz der Ganz-Genom-Sequenzierung als neues diagnostisches Instrument zur Detektion und Identifikation seltener und onkologischer Erkrankungen entstehen, ist sich Professor Malte Spielmann, Leiter des Instituts für Humangenetik am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein in Kiel, sicher. Dann wird das Projekt genomDE im Rahmen eines auf fünf Jahre angelegten Modellvorhabens Versorgungsrealität.  Nach etwas mehr als zwei Jahren der Vorbereitung sollen am 1. April die dazu erforderlichen Verträge zwischen dem GKV- Spitzenverband und den Leistungserbringern in Kraft treten, ab dem 1. Juli wird den ersten Patienten der Zugang zu diesem innovativen Diagnostikverfahren ermöglicht.

Das Modellvorhaben basiert auf Paragraf 64e SGB V, der durch das Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz geschaffen worden war: Er verpflichtet den GKV-Spitzenverband, bis zum 1. Januar 2024 einen Vertrag mit den Leistungserbringern, bindend für alle Krankenkassen, abzuschließen. Dieser beinhaltet die "Durchführung eines Modellvorhaben zur umfassenden Diagnostik und Therapiefindung mittels einer Genomsequenzierung bei seltenen und bei onkologischen Erkrankungen". Der Verband der Privaten Krankenversicherung kann dem Vertrag beitreten. Auf diese Weise soll gewährleistet werden, dass eine flächendeckende und prinzipiell für alle potentiellen Patienten offenstehende Diagnostik-Infrastruktur der Ganz-Genom-Sequenzierung zur Verfügung steht.

Eine neue Qualität der Diagnostik

Seit Inkrafttreten der Gesetzesergänzung 2021 sind für das Modellvorhaben die organisatorischen und strukturellen Voraussetzungen geschaffen worden; das gilt vor allem für die Datenerhebung, -nutzung und -auswertung, insbesondere für die Forschung, wie Sebastian Semler, Geschäftsführer der Technologie- und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung (TMF) erläutert. TMF, ein eingetragener Verein, koordiniert ein mit Experten besetztes Konsortium zum Aufbau von genomDE als bundesweite Plattform für die medizinische Genomsequenzierung. Dabei sind auch die Patientenverbände eingeschlossen. Die letzten Details dazu werden derzeit noch den Neuregelungen nach dem Gesundheitsdaten-Nutzungs-Gesetz spezifiziert. 

Das Ziel des Modellvorhabens sei es, so der Humangenetiker Malte Spielmann, allen potentiellen Patienten in den nächsten fünf Jahren den Zugang zur modernsten Form der Diagnostik, der Ganz-Genom-Sequenzierung, zur Verfügung zu stellen. In der Onkologie ziele dies darauf ab, die Möglichkeiten der personalisierten Medizin auszubauen und Therapien treffsicherer zu machen. Bei seltenen Erkrankungen sollen die Wege zur Diagnosefindung, die heute oft noch einer Odyssee gleichen, verkürzt und beschleunigt werden, nicht zuletzt auch in der Absicht, unnötige Diagnoseschritte zu vermeiden. Das soll einerseits einen Beitrag dazu leisten, die individuelle Krankheitslast zu mindern – ebenso aber auch helfen, gesellschaftliche Krankheits(-folge)kosten zu mindern. Eine weitere Option könnte die Entwicklung neuer Therapieansätze für seltene Erkrankungen sein, an denen immer noch großer Mangel herrscht. 

Bis zu 15.000 Patienten könnten profitieren

Da alle Krankenkassen an diesem Modellvorhaben verpflichtend beteiligt sind und die PKV beitreten kann – womit gerechnet wird – haben prinzipiell alle in Frage kommenden Patienten einen k(l)assenfreien Zugang. Allein für die Diagnose von seltenen Erkrankungen rechnet Spielmann mit etwa 25.000 Patienten jährlich, die davon profitieren könnten. Ob eine Ganz-Genom-Sequenzierung indiziert ist, wird allein unter medizinischen Gesichtspunkten entschieden: Voraussetzung dafür ist das Votum eines interdisziplinär besetzten Boards. 

Neben dem unmittelbaren Nutzen für die Patienten erwarten Forscher auch Erkenntnisgewinne, etwa ob mit der Ganz-Genom-Sequenzierung mehr Diagnosen gestellt werden können. Die dabei anfallenden Daten seien geeignet, die Dateninfrastruktur zu verbessern und verfeinerte Genomdaten-Vergleiche anzustellen. Es entstehe eine neue Qualität der Datengrundlagen, die wiederum den interdisziplinären Erfahrungsaustausch befruchten könne, erwartet Spielmann. Bereits nach zwei Jahren soll eine erste Zwischen-Evaluation stattfinden, bei der der Grad der Implementation des Modells in die Versorgung, die Tauglichkeit der Infrastruktur und die notwendige Kostendeckung auf den Prüfstand kommen.

5 Jahre Modellprojekt genomDE: Was passiert danach? 

Und was geschieht nach fünf Jahren, wenn das Modellvorhaben mit seiner "endgültigen" Evaluierung beendet ist? Erleidet es das gleiche Schicksal wie die allermeisten Modellvorhaben des GBA-Innovationsausschusses, die erfolgreich evaluiert und für die Regelversorgung als tauglich bewertet wurden, in der Realität aber bestenfalls bescheidene Insellösungen darstellen oder als bedrucktes Papier in den Aktenschränken der Selbstverwaltung verstauben?

Spielmann und TMF-Chefkoordinator Semler sind sich sicher, dass mit GenomDE eine neue Versorgungswirklichkeit geschaffen wird, die auch ab 2029 weiter Bestand hat und ausgebaut wird. Ein wichtiger Aspekt sei auch, dass aufgrund des flächendeckenden und für alle Patienten angelegten Modellvorhabens Mengeneffekte entstehen, die Rationalisierungspotentiale erschließen und damit die derzeit hohen Einzelfallkosten senken können. Eine weitere Option sei der Einschluss anderer Erkrankungen in die Ganz-Genom-Sequenzierung.

Zwei Umstände sehen Semler und Spielmann als förderlich: die hohe Aufgeschlossenheit der Krankenkassen und ihrer Spezialisten bei der Entwicklung der Vertragswerke in den vergangenen zwei Jahren und die konstruktive Rolle der Patientenvertretungen, insbesondere auch bei den Diskussionen um den Datenschutz und der Verfügbarmachung genomischer Daten.

Rare Disease Day

230124-Rare-Disease-Day-Bann..Seit 2008 findet jedes Jahr Ende Februar der weltweite Tag der seltenen Erkrankungen statt. esanum begleitet den Tag und berichtet nicht nur über aktuelle Themen, sondern auch über mögliche Symptomkomplexe, Diagnostik, Therapieansätze und Orphan Drugs zur Behandlung von seltenen Krankheiten. Weitere Beiträge finden Sie im Themenspecial zum Rare Disease Day.