Cannabis: Rausch auf Rezept und Ausbeutung des Gesundheitssystems?

Spray, Tropfen oder Blüten: Rund fünf Anträge auf Cannabis-Therapien liegen beim Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Berlin-Brandenburg (MDK) jeden Tag auf dem Schreibtisch. Seit März 2017 ist die Verordnung des Betäubungsmittels legal.

Cannabis-Report der TK liefert keine Gründe für übermäßige Skepsis

Spray, Tropfen oder Blüten: Rund fünf Anträge auf Cannabis-Therapien liegen beim Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Berlin-Brandenburg (MDK) jeden Tag auf dem Schreibtisch. Seit März 2017 ist die Verordnung des Betäubungsmittels legal. Bundesweit sind nach dem jüngsten Cannabis-Report der Techniker Krankenkasse (TK) schon mehr als 16.000 Anträge eingegangen. Doch längst nicht jeder Patient, der Cannabis will, bekommt es. Allein beim Medizinischen Dienst fällt die Hälfte der Anträge bei der Prüfung durch.

Emotional geführte Auseinandersetzung unter allen beteiligten Akteuren

Viel Interpretationsspielraum. Das ist eine schmeichelhafte Formulierung, mit der Gutachter der ärztlich verordneten Cannabis-Therapien das neue Gesetz umschreiben. Es verlangt als Voraussetzung zwar eine schwerwiegende Erkrankung, für die es keine Therapiealternativen gibt. Doch eine Einschränkung auf bestimmte Krankheitsbilder gibt es nicht. Die Aussicht auf Besserung darf lediglich "nicht ganz fern liegen". War das eine Einladung zum Ausnutzen der neuen Regelung zum Rausch auf Rezept? Denn sonst fällt Cannabis weiter unter das Betäubungsmittelgesetz - Anbau, Handel, Kauf und Besitz sind strafbar.

"In der Anfangsphase war deutlich erkennbar, dass es eine Gruppe von Patienten gab, die bereits süchtig war", sagt Markus Heckmann, Sprecher der Barmer für Berlin und Brandenburg. "Und die dann den Versuch unternommen hat, ihre Abhängigkeit auf Kassenrezept zu finanzieren." Auch heute kämen solche Einzelfälle noch vor. Mehrheitlich stellten die Ärzte aber Anträge für Patienten, die aufgrund ihrer Erkrankung Cannabis als Behandlungschance sähen.

Manche Ärzte und Apotheker, die Anträge auf Cannabis prüfen, möchten ihren Namen nicht in der Zeitung lesen. Sie fürchten Schikanen. "Wir werden als Feind gesehen, wenn wir Anträge ablehnen", sagt einer. Er führe Telefonate mit verzweifelten Ärzten. "Sie werden von ihren Patienten bedroht, wenn sie ihnen kein Cannabis verschreiben." Er vermutet auch, dass Praxen mit Cannabis-Therapien Werbung machen und so "Kunden" anlockten. Der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin sei so etwas nicht bekannt, sagt Sprecherin Ronja Witt. Die Top Ten der Abrechner falle in die Arztgruppen Schmerztherapie, Innere Medizin mit Schwerpunkt Krebs und Anästhesie. Oft seien es Medizinische Versorgungszentren, angegliedert an Kliniken.

Es gibt auch viele unstrittige Anträge. Zum Beispiel bei der medizinischen Versorgung in der letzten Lebensphase. "Das muss innerhalb von drei Tagen beschieden werden", sagt Susanne Dolfen, Bereichsleiterin Arzneimittelversorgung bei der AOK Nordost. "Ärzte begründen diese Anträge in der Regel sehr fundiert." Damit könnten sie auch sofort genehmigt werden. Oft ließe die Qualität anderer Anträge aber zu wünschen übrig. "Dann liegen keine Erkrankungen im Sinne des Gesetzes vor oder die Standardtherapien wurden vorher nicht ausgeschöpft." Bei Zweifeln reicht die Kasse einen solchen Antrag an den MDK weiter für ein Gutachten.

Kosten variieren je nach Patient und Erkrankung beträchtlich

Von März 2017 bis Mai 2018 sind allein bei der AOK Nordost rund 1.280 Anträge auf Cannabis-Therapien eingegangen. 60 Prozent wurden genehmigt. 500.000 Euro gab die Kasse regional dafür aus - bei 1,2 Milliarden Euro Gesamtausgaben im Jahr für Arzneimittel. Das klingt nicht nach viel. "Die Therapiekosten bei cannabishaltigen Arzneimitteln reichen aber pro Monat von 350 Euro bis hin zu 2.500 Euro beim Einsatz von Cannabis-Blüten", ergänzt Dolfen. Pro Kopf gerechnet gebe es bei Patienten also beträchtliche Unterschiede.

Beim Spitzenverband der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) summierten sich für April 2018 der Brutto-Monatsumsatz für Cannabis-Präparate bundesweit auf über fünf Millionen Euro. Vor dem Gesetz gaben Kassen bei Ausnahmegenehmigungen bis zu 
155.000 Euro für Cannabis-Therapien aus - allerdings im Jahr.

Hellhörig werden Gutachter bei Anträgen auf Cannabis, wenn ein Patient vorher kaum Diagnosen und Verschreibungen erhielt und niemals im Krankenhaus war. "Misstrauisch werden wir auch, wenn ein Gynäkologe einem Patienten wegen ADHS Cannabis verordnet", scherzt ein Prüfer. "Das jetzt aber nur als Hypothese." Und besonders sensibilisiert sind Gutachter, wenn Patienten Cannabis-Blüten in sehr hoher Dosierung bekommen sollen. Denn das lasse vermuten, dass sie den Stoff vorher schon regelmäßig illegal konsumierten und an hohe Dosen gewöhnt sind.

Die Barmer verzeichnete in der Anfangsphase eine hohe Anzahl von Anträgen für Cannabis-Blüten. "Dies haben wir zum Teil mit Sorge betrachtet", sagt Sprecher Heckmann. Die Wirkung von Blüten lasse sich deutlich schwerer einschätzen als in Arzneimitteln mit klar definierten Konzentrationen. "Entsprechend hoch ist bei Cannabisblüten das Sucht- und Nebenwirkungspotenzial." In der letzten Zeit habe sich jedoch gezeigt, dass sich Ärzte bei den Verordnungen umorientierten - weg von den Blüten. 

Die Barmer erhält seit Anfang des Jahres von Versicherten aus Berlin rund 35 und von Versicherten aus Brandenburg rund 29 Cannabis-Anträge monatlich. Rund 100 davon wurden abgelehnt. "Die Gründe sind sehr unterschiedlich", sagt Heckmann. Manchmal gehe es auch um Begleiterkrankungen wie eine schwere Depression, die eine Anwendung ausschließe. Die bisherigen Erfahrungen zeigten aber auch, dass Patienten mit Erkrankungen des Nervensystems samt heftigen Muskelkrämpfen und Schmerzen von der Behandlung profitieren - zum Beispiel bei Multipler Sklerose oder Querschnittslähmung. Als Schmerzmittel alleine habe Cannabis dagegen nur eine sehr geringe schmerzlindernde Wirkung. Andere Arzneimittel seien da überlegen.

Kritiker bemängeln nicht ausreichende Forschung und bemühen Contergan-Vergleich

"Es gibt nichts, was es nicht gibt", sagt ein Cannabis-Gutachter zu den Diagnosen, die er jeden Tag auf den Tisch bekommt. Gerade diese Beliebigkeit stört ihn. GKV-Sprecherin Ann Marini kann den Unmut verstehen. "Anders als bei anderen Medikamenten musste Cannabis nicht vorab anhand von Studien nachweisen, dass es verlässlich und sicher wirkt", sagt sie.

Jeder Arzt, der Cannabis verordnet, ist nun verpflichtet, die Behandlungsergebnisse zu dokumentieren und das Ergebnis an das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte zu geben. Damit soll sich später zeigen, ob oder wie Cannabis bei welchen Patienten wirkt - oder eben nicht. "Wir werden also, wenn überhaupt, frühestens in einigen Jahren hoffentlich jene Kenntnisse zu Cannabis haben, die andere Medikamente bei der Zulassung vorlegen müssen", sagt Marini. Kritiker nennen das eine Feldforschung, wie es sie seit dem Contergan-Skandal nicht mehr gegeben habe.

Die TK hat 2017 bundesweit 2,3 Millionen Euro für Cannabis-Therapien ausgegeben. Schwerpunkte lagen in Westdeutschland - und in Berlin mit 136 Verordnungen pro 100.000 TK-Versicherten. "Wir hatten keine Erwartungen an die Therapiekostenhöhe. Allerdings ist diese Summe nicht besonders hoch, verglichen mit anderen neu eingeführten Arzneimitteln", sagt Sprecher Lennart Paul. Die TK hat in ihrem Cannabis-Report aufgelistet, wann Präparate verordnet wurden: bei Tumorschmerz- und Tumorleiden, in der letzten Lebensphase, bei Lungen- und Darmerkrankungen, Nervenerkrankungen, Epilepsie, bei Schmerzen, Tourette-Syndrom - und bei Appetitlosigkeit. Seine Kasse hat bisher nicht den Eindruck, dass Patienten das System für einen Rausch auf Rezept ausnutzen.