Diabetes wird weltweit zu immer größerem Problem

Doppelt so viele Diabetiker wie heute werden bis 2030 weltweit erwartet. Dass sie zu viel essen und sich zu wenig bewegen würden, hören Betroffene oft. Nur die halbe Wahrheit? Beim Bäcker sind es T

Doppelt so viele Diabetiker wie heute werden bis 2030 weltweit erwartet. Dass sie zu viel essen und sich zu wenig bewegen würden, hören Betroffene oft. Nur die halbe Wahrheit?

Beim Bäcker sind es Törtchen, Plunderteilchen, Kuchen. Im Supermarkt die Regalreihen voller Schokoriegel, Fertigprodukte und Chipstüten. Verlockungen lauern an jeder Ecke. “Früher haben die Menschen das Essen gejagt. Heute jagt das Essen die Menschen”, sagt Silvia Schönfuss, Ernährungsberaterin an der Diabetes-Ambulanz der Berliner Charité. Sie schult Patienten unter anderem zu Fragen rund ums Essen. Im Wartezimmer ist jeder Stuhl belegt. Dabei sei es ein vergleichsweise ruhiger Tag, versichern die Mitarbeiter.

Die Arbeit dürfte hier auch in Zukunft nicht ausgehen. Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wird sich die Zahl der aktuell 350 Millionen Diabetiker weltweit in den kommenden 20 Jahren verdoppeln. Der Kampf gegen Diabetes steht in diesem Jahr im Mittelpunkt des Weltgesundheitstages am 7. April.

Auch in Deutschland erkranken laut Deutscher Diabetes Gesellschaft (DDG) jedes Jahr 300 000 Menschen daran, allerdings ist die Dunkelziffer groß. Bis zu zwei Millionen Menschen wissen nach aktuellen DDG-Schätzungen noch nicht von ihrer Erkrankung.

Diabetes ist weltweites Problem

Die Verbreitung des bewegungsarmen, aber kalorienreichen westlichen Lebensstils gilt als Mitursache, dass selbst in Entwicklungs- und Schwellenländern immer mehr Kinder übergewichtig und fettleibig sind. Zu dicke Kinder mit erhöhtem Risiko für Typ-2-Diabetes seien auch in Deutschland ein Problem, sagt der Mediziner Thomas Bobbert, der die endokrinologische Tagesklinik der Charité leitet.

“Die Lebensmittelindustrie trägt eine gehörige Mitschuld am weltweiten Anstieg von Diabetes Typ 2”, sagt Verbraucherschützer Oliver Huizinga von Foodwatch. Mit kindgerechter Werbung für Junkfood, Süßigkeiten und Softdrinks müsse Schluss sein. “90 Prozent der Lebensmittel, die mit Comics und Spielzeugbeigaben an Kinder vermarktet werden, sind zu süß, zu fettig, zu salzig.”

Auch die Politik trage wie bei Zigaretten Verantwortung, sagte DDG-Vizepräsident Dirk Müller-Wieland. Er begrüßt die Mitte März von der britischen Regierung angekündigte Einführung einer Zuckersteuer für Softdrink-Unternehmen – in mehreren anderen Ländern auch in der EU gibt es solche Modelle schon. Höchste Zeit auch für Deutschland nachzuziehen, meint die DDG: “Gesunde, energiearme Ernährung sollte günstiger sein als ungesunde, energiereiche”, so Müller-Wieland.

Verbote bringen nichts

Doch sind es allein die Kaufentscheidungen, die zuckerkrank machen? Im Seminarraum der Berliner Diabetes-Ambulanz stapeln sich im Regal leere Margarineboxen, Käseschachteln und Flaschen für Schulungen. Was ist gut, was böse? Diese Frage stelle sich heutzutage nicht mehr, betont Silvia Schönfuss. “Wir verbieten nichts. Was verboten ist, gewinnt an Reiz und wird heimlich gegessen.” Sie betont: Die Dosis macht das Gift.

Auch Mediziner Bobbert will bei fettleibigen Kindern nicht pauschal falsches Verhalten anprangern: “Ich würde nicht so weit gehen zu sagen, die sollen einfach mal nur FDH (Friss-die-Hälfte) machen.” Ungünstige Ernährung und mangelnde Bewegung sei “mit Sicherheit ein großes Problem”, aber auch die Veranlagung spiele eine wesentliche Rolle. Waren die Eltern Typ-2-Diabetiker, sei das eines Tages auch beim Kind sehr wahrscheinlich. Ob früher oder später im Leben lasse sich aber durch den Lebensstil beeinflussen, sagt Bobbert.

Mit Diabetes ist ein Stigma verbunden, beobachten Mitarbeiter der Ambulanz: Betroffene bekämen Kommentare wie “Haste dir angefressen” zu hören und trauten sich zum Beispiel nicht, in der Öffentlichkeit Insulin zu spritzen. Auch Typ-1-Diabetikern werde oft eine Mitschuld an ihrer Krankheit unterstellt. Dabei kann die Bauchspeicheldrüse bei dieser Form das Hormon Insulin ein Leben lang nicht produzieren.

Bei Typ 1 sind Insulin-Spritzen die Standardtherapie, erläutert Bobbert. Bei Typ 2 werde zunächst an Veränderungen des Lebensstils gefeilt: Betroffene führen zum Beispiel ein Ernährungstagebuch und schildern Fachleuten ihre Einkaufs- und Kochgewohnheiten. Hinzu kämen dann Tabletten, um den Blutzucker zu kontrollieren. “Erst wenn das nicht mehr klappt, ist man auch bei Typ 2 beim Insulin”, so Bobbert.

Diabetes Typ 2 wird nach Angaben der DDG im Schnitt zehn Jahre nach Ausbruch bemerkt – der Blutzucker steigt schleichend. Wenn Diabetes diagnostiziert wird, dann wegen typischer Begleit- und Folgeprobleme. Dazu zählen koronare Herzerkrankungen, chronische Wunden, Nierenversagen, Sehbeschwerden. Solche Konsequenzen drohen auch der Vielzahl der nicht optimal eingestellten Patienten, deren Blutzucker nicht unter Kontrolle ist. Das bedeutet nicht nur höhere Kosten für die Sozialkassen, sondern auch viel Leid: 50 000 Mal pro Jahr wird Betroffenen nach Zahlen der DDG in Deutschland ein Fuß amputiert, 2000 Diabetiker erblinden, 2300 müssen zur Dialyse.

Tödlich verlaufen die chronische Krankheit und ihre Folgen vor allem in ärmeren Ländern, wo Diagnose, Therapie- und Beratung längst nicht so ineinandergreifen wie in den deutschen Spezialambulanzen. Doch auch in Deutschland gehen Tausende Todesfälle auf Diabetes zurück: Rund 23 000 waren es allein 2014, vor allem bei Patienten über 70.

Aktuelle Expertenbeiträge zu diesem Thema lesen Sie jede Woche neu im esanum Diabetes Blog.

Text: dpa /fw

Foto: pittawut / Shutterstock.com