Digitalisierung: Die ambulante Versorgung der Zukunft wird super!

Dr. Gerd Wirtz erläutert im Interview, welche Chancen und Herausforderungen die Digitalisierung im medizinischen Alltag mit sich bringt.

Dr. Gerd Wirtz, Digital Health Experte, Keynotespeaker und Medizinmoderator schreibt auf seiner Homepage: "Die Digitalisierung wird unser Leben und unsere Gesellschaft radikal verändern und bietet enorme neue Chancen, aber auch Herausforderungen." Im Interview erläutert er, was das für das Gesundheitswesen bedeutet. Um das Thema elektronische Patientenakte, den Mehrwert digitaler Gesundheitsanwendungen und Deutschlands Stand im internationalen Digitalisierungsprozess ging es auch bei der "3. StartUp Praxis – Deutsches Ärzte- und Medizinerforum" am 13.11.2021, bei der auch Dr. Wirtz referierte. 

esanum: Dr. Wirtz, wo sehen Sie die größten Chancen der Digitalisierung im Gesundheitswesen?

Wirtz: Eine große Chance ist die zunehmende Personalisierung der Medizin. Derzeit erleben wir viele sogenannte Schrotschüsse. Wir haben Therapien, die gegen eine angenommene Krankheit wirken - aber was der Patient wirklich hat, finden wir oft gar nicht so genau heraus. Digitalisierung wird die Medizin viel individueller machen, weil wir mit digitaler Unterstützung viel genauere Diagnosen stellen können. 

Zudem hilft uns Digitalisierung, die Medizin menschlicher zu machen. Denn im Moment sind Ärzte chronisch überlastet und haben sehr wenig Zeit für die Patienten. Der Hausarzt hat laut dem aktuellen Ärztemonitor der KBV im Durchschnitt 7,20 Minuten pro Patient. Digitale Hilfen, wie Apps zur Diagnoseunterstützung, KI, die den Ärzten bei der Dokumentation helfen, können wertvolle Zeit sparen, die dann für die Betreuung des Patienten zur Verfügung steht. Auch das Pflegepersonal verbringt rund 30 Prozent der Zeit mit der Dokumentation. Da gibt es inzwischen effektive Hilfen, wie z.B. Dokumentation durch Spracheingabe, damit die menschlichen Aspekte mehr Raum bekommen.

esanum: Und wo sehen Sie Risiken?

Wirtz: Es werden viele ethische Fragen zu klären sein. Ein Beispiel: wenn ich anhand genetischer Analysen herausfinde, dass jemand im Risiko steht, eine unheilbare Krankheit zu erleiden, ist es dann vertretbar, ihm das zu sagen? Oder auch die Zuwendung für demente Patienten durch Roboter. Ist es ethisch in Ordnung, wenn der demente Mensch das als menschliche Wärme empfindet?

Ein zweites Risiko - die benötigte Anschubfinanzierung. Damit Digitale Medizin funktioniert, muss die entsprechende Infrastruktur geschaffen werden. Wenn wir diesen Berg überwunden haben, wird die Medizin preiswerter. Weil wir dann sehr viel präventiver agieren können und uns bei chronischen Erkrankungen viele teure Therapien sparen können.

esanum: Die COVID-19-Pandemie hat auch im Gesundheitssektor aufgezeigt, dass die Umsetzung digitaler Lösungsansätze bereits möglich ist, an verschiedenen Stellen allerdings noch hakt. Was sind Ihrer Ansicht nach die größten Problemfaktoren bei der Digitalisierung im Gesundheitswesen?

Wirtz: Der Datenschutz wird oft als Einwand genutzt, der vieles blockiert. Aber das muss so nicht sein. Befragungen zeigen, dass Patienten häufiger als angenommen bereit sind, ihre Daten zu teilen, weil sie wissen, dass es ihnen hilft. Man sieht das in Skandinavien, wo die Daten freiwillig gegeben und auch genutzt werden. Es wird aber von den Institutionen hier bei uns so noch nicht angenommen.

Bremsend wirken auch Partikularinteressen und mangelnde Interoperabilität. Ein Beispiel: Wir schaffen es nicht, Impfpässe einheitlich zu kontrollieren. In anderen Ländern (z.B. Frankreich) gibt es einfache und einheitliche Erfassungssysteme.

Wir diskutieren seit fast einem Jahr über die Apps zur Kontaktnachverfolgung und konnten uns bisher nicht zu einer gesamtdeutschen Lösung durchringen. Wir machen es komplizierter als notwendig, verheddern uns in den eigenen Regeln.

esanum: Nicht wenige Medizinerinnen und Mediziner warnen vor einer unüberlegten beziehungsweise “überhasteten” Digitalisierung im Gesundheitssektor. Wie begründet sind derartige Sorgen?

Wirtz: Wissen Sie, wann die E-Patientenakte beschlossen wurde? Das war 2002, damals noch mit Ulla Schmidt als Gesundheitsministerin. So viel zum Thema Tempo der Digitalisierung. Jetzt möchte die Kassenärztliche Bundesvereinigung ein Moratorium für ein Jahr, um die Digitalisierung auszusetzen. Da spüre ich viel grundsätzliche Verweigerung, obwohl wir in den letzten Jahren die Entwicklung wie in vielen anderen Ländern verpasst haben. Der aktuelle Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hat dafür gesorgt, dass einige Versäumnisse aufgeholt wurden. Es fehlt aus meiner Sicht eine positive Motivationsstrategie bei den Leistungserbringern. Mehr als 70 Prozent der Ärztinnen und Ärzte haben bisher die Voraussetzungen für die E-Patientenakte nicht einmal beantragt.

esanum: Wo sehen Sie Deutschland im internationalen Vergleich bezüglich der medizinischen Digitalisierung?

Wirtz: Wir sind in der Infrastruktur und Ausnutzung der digitalen Möglichkeiten leider weit hinten. Laut der Smart Health Studie der Bertelsmann-Stiftung unter 18 Ländern steht Deutschland auf dem vorletzten Platz. 

esanum: Wie kann bei einer zunehmenden Digitalisierung des Gesundheitswesens die Datensicherheit gewährleistet werden?

Wirtz: Zuerst ist da der Faktor Mensch. Wo Daten verarbeitet werden, brauchen wir regelmäßige Schulungen und eine erhöhte Sensibilisierung. Zusätzlich brauchen wir ein standardisiertes, zentrales, also länderübergreifendes Sicherheitskonzept. Ein zentrales Meldesystem von Fehlern und Hackerangriffen würde uns helfen, Muster in diesen Vorgängen zu erkennen, die man dann recht schnell abstellen kann. 

esanum: Wie wird die Zukunft der ambulanten Versorgung aussehen?

Wirtz: Ich freue mich auf die Zukunft der ambulanten Versorgung. Wenn alle mitspielen, sehe ich eine Umkehrung der Medizin – weg von der kurativen, hin zur präventiven Medizin. Das heißt, die Ärzte werden in Zukunft viel mehr gesunde Patienten sehen. Der Arztberuf wird vielfältiger und spezialisierter werden. Es wird z.B. den spezialisierten Telemediziner geben. Der kann sich auf bestimmte Indikationen konzentrieren, weil er keine regionale Versorgung mehr machen muss. Der Patient kann vom besten Spezialisten behandelt werden, unabhängig von seinem Standort. Außerdem werden wir eine 24-7-Medizin bekommen. Das heißt, wenn nötig, kann der Patient rund um die Uhr in irgendeiner Form mit dem Behandler kommunizieren. Da helfen Apps, Monitoringsysteme und Wearables. In der Kardiologie gibt es das ja schon, dass die Patienten Sensoren tragen, die erkennen, ob eine Herzrhythmusstörung gefährlich wird oder ein Herzinfarkt droht. Und wenn es gefährlich wird, wird die Messung an den Arzt weitergeleitet. Künftig bekommt der Patient eine Warnmeldung, sich in Behandlung zu begeben. Im besten Fall alarmiert das System gleich den Notruf und binnen Minuten steht der Krankenwagen mit dem richtigen Facharzt und dem entsprechenden Equipment beim Patienten vor der Tür.

esanum: Welche Bedeutung messen Sie digitalen Gesundheitsanwendungen für die Zukunft der Arzt-Patienten-Beziehung und die Patientenbetreuung zu?

Wirtz: Sie spielen eine wichtige Rolle, weil sie genau diese kontinuierliche Betreuung gewährleisten können, ohne, dass der Arzt überlastet wird. Bestimmte Apps können abfedern, wenn ein Patient sich wegen Symptomen sorgt, indem sie ihm zeigen, ob er sofort zum Arzt muss oder erst später. Das stärkt auch die Adherance der Patienten. Solche Apps zeigen Fortschritte an, sie motivieren, dranzubleiben. Das erhöht dann natürlich auch die Heilungsraten.