Onkologie: Immuntherapie als Alternative zur Chemotherapie

Statt Chemotherapie das körpereigene Immunsystem gegen Krebszellen einsetzen: Mit verblüffenden Erfolgen der Immuntherapie wird für viele Mediziner ein alter Traum wahr. Doch es gibt noch offene Fr

Statt Chemotherapie das körpereigene Immunsystem gegen Krebszellen einsetzen: Mit verblüffenden Erfolgen der Immuntherapie wird für viele Mediziner ein alter Traum wahr. Doch es gibt noch offene Fragen – und längst nicht allen kann geholfen werden.

Mit einem angeschwollenen Lymphknoten und Nachtschweiß fing es an. Georgios Kessesidis fühlte sich ständig schlapp, ging deswegen wieder und wieder zum Arzt. „Die Diagnose war immer Bronchitis oder Asthma, weil ich Heuschnupfen hatte“, sagt der heute 27-Jährige aus Reutlingen. Erst Monate und zahlreiche Arztbesuche später stellte sich heraus: Es war etwas völlig anderes, der junge Mann litt unter Lungenkrebs. „Ich habe alles erwartet an Krankheiten, aber bestimmt nicht sowas“, erinnert er sich. Der Krebs war schon sehr weit fortgeschritten – und eigentlich Experten zufolge weder heilbar noch sinnvoll zu operieren.

Trotzdem sieht Kessesidis heute kerngesund aus. „Ich fühle mich richtig gut“, sagt er. Was ist in der Zwischenzeit passiert? Auf die Chemotherapie, die er anfangs bekam, sprach er nicht an – der Tumor wuchs sogar weiter. Dann erfuhr er von der Möglichkeit, an einer internationalen Studie teilzunehmen. Seit Juni 2014 macht er mit. „Diese Therapie, dieses Medikament, hat bestimmte Immunzellen aktiviert, Immunzellen, die in der Lage sind, Tumorzellen zu erkennen und abzutöten“, erläutert Kessesidis’ Arzt Dirk Jäger, Direktor für Medizinische Onkologie im Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen in Heidelberg. Die Zeit ist aber noch zu kurz, um von Heilung zu sprechen, und nicht bei allen Lungenkrebspatienten wirkt diese Immuntherapie.

Das Immunsystem erkenne manche Tumorarten besser als andere, berichtet das Deutsche Krebsforschungszentrum in Heidelberg (DKFZ). Dazu gehöre etwa der schwarze Hautkrebs. Für Patienten, die darunter litten, würden bevorzugt neue immunologische Therapien entwickelt.

Gegen viele andere Krebsarten gebe es bislang aber keine ausreichend wirksamen Möglichkeiten der Immuntherapie. Jäger zufolge zeigt sie etwa bei Dickdarmkrebs und Bauchspeicheldrüsenkrebs weit weniger gute Ergebnisse. Derzeit laufen in aller Welt Studien, viele Firmen entwickeln entsprechende Medikamente. „Da gibt es eine richtige Goldgräberstimmung, auch in der Arzneimittelindustrie und in der Biotechnologie“, sagt DKFZ-Chef Otmar Wiestler.

Mediziner Jäger zufolge ist eine sehr ähnliche Substanz, wie Kessesidis sie in der Studie bekommt, gerade in den USA zugelassen worden. Experten rechnen mit einer Zulassung in Deutschland etwa in einem Jahr. Die Kosten für einen Patienten liegen ihnen zufolge zwischen 15 000 Euro und 20 000 Euro. Kessesidis müsse nichts bezahlen, die Kosten übernehme ein großer Pharmakonzern, der die Studie finanziere, sagt Jäger. Der Krebsinformationsdienst des DKFZ informiert darüber, wo Patienten welche Studien finden.

Der Fortschritt, der auf dem Feld der Immuntherapie erzielt wurde, war nach Einschätzung des Fachmagazins „Science“ die wissenschaftliche Top-Entdeckung des Jahres 2013. Es war das Jahr, in dem die Strategie nach jahrzehntelanger Forschung endlich ihr volles Potenzial gezeigt hat, wie die Herausgeber damals erklärten. „Ein neues Kapitel der Krebsforschung und -behandlung hat begonnen.“ Dennoch steckten die meisten Therapien erst in unterschiedlich weit gekommenen Studien.

„Immuntherapie ist ein alter Traum der Krebsmedizin“, sagt DKFZ-Chef Wiestler. „Krebszellen sind ja fremde Zellen im Körper – und eigentlich müsste man glauben, dass unser Abwehrsystem sie erkennt.“ Doch wenn der Krebs ausbreche, versage das Immunsystem. Lange Zeit kannten Mediziner nicht den Grund dafür. „Heute weiß man: Tumore können sich vor dem Immunsystem verstecken und werden dann einfach nicht mehr als fremd erkannt. Zum anderen bauen Krebsgewebe einen Schutzwall auf, der verhindert, dass Zellen des Abwehrsystems die Krebszellen erkennen und in das Krebsgewebe eindringen.“

Mit diesem Wissen seien in den vergangenen Jahren völlig neue Strategien entwickelt worden, wie das Immunsystem doch wieder aktiviert und gegen Krebszellen eingesetzt werden könne, sagt Wiestler. Es gebe Patienten – wie Kessesidis – die überraschend gut ansprächen auf die Medikamente. Aber: „Ob diese Reaktionen langfristig anhalten und ob man dann wirklich von einer Heilung sprechen kann, das kann keiner von uns momentan prognostizieren.“ Manche Patienten reagierten auch gar nicht auf die Immuntherapie – „und wir verstehen momentan nicht wirklich, warum das so ist“. Die Wissenschaft sei auf diesem Feld noch in einer Lernphase.

Kessesidis sei aber nicht die große Ausnahme, betont sein Arzt Jäger. „Wir haben eine ganze Reihe von Patienten, bei denen wir solche Verläufe sehen. Nicht alle, aber doch eine ganze Reihe.“ Der Patient komme momentan noch alle zwei Wochen für die Therapie nach Heidelberg und bekomme eine Infusion. Die Studie solle in ihrer jetzigen frühen Phase vor allem zeigen, welche Nebenwirkungen das Medikament hervorrufe. Kessesidis hatte, wie er selbst erzählt, zu Beginn der Immuntherapie leichten Durchfall, außerdem verschlechterte sich zeitweise seine Schuppenflechte.

Ob der 27-Jährige dauerhaft auf das Medikament anspricht und sein Tumor erfolgreich bekämpft ist, vermag Mediziner Jäger nicht vorherzusagen. „Wir alle hoffen es.“

Text und Foto: dpa /fw