Neues Konzept für die Therapie von Alkoholabhängigen: Reduziertes Trinken

Alkoholabhängigkeit ist in Deutschland eine der schwerwiegendsten Suchterkrankungen. Jedes Jahr sterben etwa 74.000 Menschen an den Folgen ihres Alkoholmissbrauchs, so Zahlen der Deutschen Gesellsc

Alkoholabhängigkeit ist in Deutschland eine der schwerwiegendsten Suchterkrankungen. Jedes Jahr sterben etwa 74.000 Menschen an den Folgen ihres Alkoholmissbrauchs, so Zahlen der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN). In ihrer neuen S3-Leitlinien „Alkohol“ und „Tabak“ verabschiedet sich die DGPPN von dem bisher vertretenen Ansatz, dass Alkoholabhängige komplett auf Alkohol verzichten sollen. Stattdessen empfehlen die Experten in ihrer Leitlinie das „reduzierte Trinken“ als weitere Therapieoption.

Der DGPPN zufolge zeigt sich, dass viele Alkoholiker vor einer Therapie zurückschrecken, weil sie wissen, dass vollständige Abstinenz für sie mit enormen körperlichen Entzugserscheinungen wie Herzrasen, Zittern, Angstzustände und Schwitzen verbunden ist. Eine Untersuchung in den USA besagt sogar, dass knapp die Hälfte der Personen mit behandlungsbedürftigen Alkoholproblemen trotz eigener Einsicht in die Notwendigkeit nicht bereit ist, vollständig auf Alkoholkonsum zu verzichten. Bisher wurde Abhängigen fast ausnahmslos eine Therapie mit körperlicher Entgiftung, qualifizierter Entzugsbehandlung und medizinischer Rehabilitation angeboten. Dabei ist die lebenslange Abstinenz von Alkohol das allgemein anerkannte Therapieziel. Die neue Leitlinie vom “reduzierten Trinken” eröffnet jetzt völlig neue Perspektiven und basiert unter anderem darauf, dass 20 bis 30 Prozent der Alkoholabhängigen in der Lage sind, ihren Konsum über einen längeren Zeitraum zu senken. In einer Therapie wäre das ein Teilerfolg, der Patienten zu weiteren Anstrengungen zur vollständigen Abstinenz ermuntern könnte.

Vor diesem Hintergrund kam die international viel beachtete englische Therapieleitlinie (NICE 2011) zu dem Schluss, auch die Reduktion der Trinkmengen als zumindest intermediäres Therapieziel für Alkoholabhängige anzuerkennen – ein Standpunkt, den auch die European Medicines Agency vertritt (EMA 2011). Kurzum: Weniger trinken ist immer noch besser als auf dem bisherigen Niveau weiter zu trinken. Das Ziel dieses Ansatzes ist es, mit der Senkung der Eingangsschwelle soll deutlich mehr Menschen in eine Beratung zu bringen und zu einer Therapie zu bewegen als wenn weiterhin komplette Abstinenz das Ziel ist. Schädlicher Alkoholkonsum hat negative Auswirkungen auf beinahe alle Organsysteme – von Leber über Niere und Herz bis hin zu Volkskrankheiten wie Bluthochdruck. Die suchtmedizinischen Abteilungen der Psychiatrischen Kliniken behandeln pro Jahr etwa 200.000 „Fälle“ mit Alkoholdiagnose. In den somatischen Abteilungen der Krankenhäuser finden sich mehr als 335.000 Patienten mit einer ihren Beschwerden zugrunde liegenden Alkoholproblematik.

In Deutschland gibt es circa 1,9 Millionen Alkoholabhängige und rund 1,6 Millionen Menschen mit „schädlichem Gebrauch“ von Alkohol. Seit 2010 beträgt der durchschnittliche Pro-Kopf-Alkoholkonsum in Deutschland jährlich 9,6 Liter reinen Alkohols im Vergleich zu 11,1 Liter im Jahr 1995. 9,5 Millionen Menschen in Deutschland konsumieren Alkohol in gesundheitlich bedenklicher Form. Bei 15,6 Prozent der Jugendlichen im Alter von 11 bis 17 Jahren ist ein riskanter Alkoholkonsum festzustellen (Mädchen: 16,2 Prozent, Jungen: 15,1 Prozent). Regelmäßiges Rauschtrinken (mindestens einmal im Monat sechs oder mehr alkoholische Getränke bei einer Gelegenheit) ist bei 11,6 Prozent der Jugendlichen anzutreffen, so der Drogen- und Suchtbericht 2014 der Drogenbeauftragten der Bundesregierung.

Die neuen Leitlinien richten sich an alle Berufsgruppen, die betroffene Patienten behandeln. Sie entstanden in einem vierjährigen Entwicklungsprozess im Rahmen der Arbeitsgemeinschaft Wissenschaftlich Medizinischer Fachgesellschaften (AWMF). Die Federführung lag bei der DGPPN und der Deutschen Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie (DG-Sucht). In die Entwicklung waren insgesamt mehr als 50 Fachgesellschaften, Berufsverbände und Gesundheitsorganisationen sowie über 60 ausgewiesene Suchtexperten involviert.