“Ärzten geht das Bewusstsein für Adipositas verloren”

Interview mit Professor Günter Stalla über die gesundheitlichen Folgen von Adipositas, das Versagen der Politik sowie Möglichkeiten, die Erkrankung in den Griff zu bekommen.

Interview mit Professor Günter Stalla über die gesundheitlichen Folgen von Adipositas, das Versagen der Politik sowie Möglichkeiten, die Erkrankung in den Griff zu bekommen.

Für Professor Günter Stalla, Leiter der Inneren Medizin, Endokrinologie, Klinischen Chemie, Neuroendokrinologischen Ambulanz und Andrologie am Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München, ist Adipositas eine tickende Zeitbombe, die bereits jetzt das größte gesundheitliche Problem unserer Gesellschaft darstellt. Neben den bekannten gesundheitlichen Folgen des Übergewichts wie einem höheren Krebsrisiko, einem massiv erhöhten Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes oder Depressionen hält er besonders das insgesamt schwindende Bewusstsein für Adipositas in der Gesellschaft für eine enorme Herausforderung. “Selbst wir Ärzte akzeptieren Adipositas inzwischen, weil sie so weit verbreitet ist. Dabei stellt schon eine Adipositas vom Grad I bereits ein erhebliches gesundheitliches Problem dar”, so Stalla, der in diesem Jahr Präsident der DACH-Tagung der deutschen Gesellschaft für Endokrinologie in München war.

Professor Günter Stalla – Leiter der Inneren Medizin, Endokrinologie, Klinischen Chemie, Neuroendokrinologischen Ambulanz und Andrologie am Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München

esanum: Wie definieren Sie als Arzt Adipositas?

Stalla: Die Weltgesundheitsorganisation WHO definiert Übergewicht entsprechend eines Body-Mass-Index (BMI) von mehr als 25 kg/m2 und Adipositas ab einem BMI von 30 kg/m2.

Allerdings gilt es darüber hinaus noch zu unterscheiden zwischen Grad I, II und III, der erst ab einem BMI von mehr als 40 vorliegt. In der Wissenschaft ist es zurecht umstritten, dieses Kriterium als einziges anzuwenden, da sehr muskulöse Personen beispielsweise häufig einen höheren BMI besitzen, aber sicherlich nicht übergewichtig sind. Wir wissen längst, dass insbesondere das Fettverteilungsmuster sich auf das metabolische und kardiovaskuläre Gesundheitsrisiko auswirkt. Subkutanes Fett ist deutlich schädlicher als oberflächliches Fett. Sinnvoller ist es von daher, ergänzend den Taillenumfang als Messgröße hinzuzuziehen. Hier gelten 94 cm bei mitteleuropäischen Männern und 80 cm bei Frauen als erhöht.

esanum: Welche Krankheiten stehen im Zusammenhang mit Adipositas?

Stalla: Die Liste der mit Adipositas assoziierten Komorbiditäten ist lang. Sie reichen von den kardiovaskulären Erkrankungen wie Bluthochdruck und dem Herzinfarktrisiko, Diabetes, Schlafapnoe bis hin zu Arthritis oder Depression. Vor allem ist auch das Risiko an bestimmten Krebsarten zu erkranken bis zu vierfach erhöht.

Besonders die psychischen Probleme sollte man nicht unterschätzen. Übergewichtige Menschen werden stigmatisiert und fühlen sich ausgegrenzt. Dicke trauen sich nicht mehr ins Schwimmbad oder zum Sport und fühlen sich auch bei ihren Karrieremöglichkeiten behindert. Schwer übergewichtige Chefs sind eher die Seltenheit. Es gilt als Makel. Deshalb ist es nachvollziehbar, dass Depressionen bei übergewichtigen Personen häufiger auftreten.

esanum: Wenn Adipositas so schädlich ist, müssten dann nicht Ärzte deutlich pro-aktiver Patienten auf die Adipositas hinweisen und gegebenenfalls früher behandeln? Warum passiert das nicht?

Stalla: Unser Gesundheitssystem ist auf die reparative Medizin ausgelegt. Das heißt, es wird viel zu wenig in die Vorsorge und Prävention investiert. Wir als Ärzte können dann immer erst tätig werden, wenn bereits eine Erkrankung vorliegt. Was anderes bezahlen die Krankenkassen in der Regel nicht. Das ist gerade bei Adipositas ein großes Problem, weil dann erst Medikamente bezahlt werden, wenn eine Folgeerkrankung wie Diabetes Typ II mit teilweise erheblichen Symptomen auftritt.

Wir sollten nicht die Augen davor verschließen, dass auch wir als Ärzte von Entwicklungen in der Gesellschaft beeinflusst werden. Allein in Deutschland ist ein Viertel der Bevölkerung krankhaft übergewichtig. Fast jeder zweite Patient, der eine Klinik betritt, wiegt zu viel. Mit anderen Worten: Auch wir als Ärzte erkennen eine Adipositas vom Grad I inzwischen als etwas Normales an. Beim Grad III sehen viele erst ein wirkliches Problem. In den USA sind die Auswirkungen noch gravierender. Wenn der schlanke Patient zur Ausnahme wird, ist es verständlich, dass die Sensibilität für Adipositas sinkt.

esanum: Was genau müsste passieren, damit Adipositas in den Griff zu bekommen ist?

Stalla: Für mich ist Adipositas bereits jetzt das größte gesundheitliche Problem in unserer Gesellschaft. Es ist eine Zeitbombe und letztlich ist sie auch ein Kollateralschaden unserer Leistungsgesellschaft.

Stress ist eine der Hauptursachen für Adipositas. Zahlreiche Medikamente, die helfen, bestimmte Symptome zu behandeln, machen dick. Antihistaminika, Psychopharmaka, Antiepileptica und Migränemedikamente sind hier genauso zu nennen wie Betablocker oder Kortikoide. Wer mehr schläft, reduziert beispielsweise sein Adipositasrisiko.

Kurzum: Wir müssen unser gesamtes Verhalten umstellen. Mehr Bewegung, eine völlig andere Ernährung mit mehr Vollkornprodukten und Ballaststoffen sind nur ein Teil davon. Warum müssen fast alle Backwaren aus ballaststofffreiem Weißmehl hergestellt sein? Jeder weiß doch inzwischen, dass diese schnellverfügbaren Kohlenhydrate unmittelbar in Fett umgewandelt werden. Die Wahrscheinlichkeit, dass zwei übergewichtige Menschen ein übergewichtiges Kind bekommen, ist sehr hoch. Schon während der Schwangerschaft gilt es, dem entgegen zu wirken, damit nicht schon unsere Kinder adipös werden. Genauso in Kitas und Schulen. Ernährung gehört in den Unterricht!

Schlussendlich ist auch die Politik gefragt. Sie muss die Forschung für Adipositasprojekte deutlich erhöhen und gleichzeitig über Maßnahmen wie eine Zuckersteuer nachdenken.

Das Bewusstsein für Adipositas schwindet immer mehr. Dicksein wird zum Normalfall.

esanum: Warum ist die Politik so zögerlich, wenn es darum geht, gegen Adipositas etwas zu unternehmen?

Stalla: Wir sind hier schon deutlich weiter als noch vor Jahrzehnten. Trotzdem gibt es einen massiven Lobbyismus der Ernährungsindustrie aber auch der Krankenkassen zum Beispiel, die kein Interesse daran haben, ihre Ausgaben für Prävention deutlich anzuheben. Stattdessen wird repariert, was gerade bei Adipositas eine sehr kurzsichtige Herangehensweise ist, wenn man die volkswirtschaftlichen Kosten des Dickseins betrachtet. Es fehlt der politische Mut, das Problem konsequent anzugehen.

Adipositas ist zudem ein soziales Problem. Sie tritt deutlich häufiger bei Menschen mit einem sozial schwachen Hintergrund als bei Personen mit höherem Bildungsgrad und Einkommen auf. Gutes und gesundes Essen kostet einfach mehr. Wer es sich nicht leisten kann, endet sehr schnell bei einer ungesunden Ernährung.

esanum: Wie bewerten Sie Medikamente, die zur Adipositasbehandlung eingesetzt werden?

Stalla: Eine Medikation allein bewirkt gar nichts ohne eine Verhaltensänderung und Anpassung des Lebensstils.

Ich halte Medikamente dann für sinnvoll, wenn ein Patient mit einer Änderung der Ernährung und deutlich mehr Bewegung ein gewisses Plateau erreicht hat, und allein keine weitere Gewichtsabnahme mehr hinbekommt. Wenn also beispielsweise jemand innerhalb eines halben Jahres deutlich abgenommen hat, dann kann eine Medikation eine weitere Hilfe sein, um noch etwas Gewicht zu verlieren. Eine Verkleinerung des Magenvolumens ist sicherlich ein nachhaltigeres Verfahren.