"Bei Millionen Neupatienten wird es ruckeln im Versorgungssystem"

In Deutschland müssen jetzt Zehntausende Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine medizinisch versorgt werden. Der SpiFA-Vorstandsvorsitzende Dr. Dirk Heinrich macht im esanum-Interview auf die Herausforderungen für Ärztinnen und Ärzte aufmerksam.

Versorgung von Ukraine-Flüchtlingen eine Herausforderung

Interview mit Dr. Dirk Heinrich vom SpiFA

esanum: Dr. Heinrich, jeden Tag verlassen mehr Menschen in der Ukraine ihr zu Hause, um irgendwo Sicherheit zu suchen - viele von ihnen kommen nach Deutschland. Was bedeutet das für die medizinische Versorgung hier bei uns? 

Dr. Heinrich: Wir müssen uns auf große Flüchtlingsströme einstellen. In der Ukraine leben etwa 51 Millionen Menschen. Setzten sich nur zehn Prozent von ihnen in Richtung Westen in Bewegung, dann sind das mehr als fünf Millionen. Und damit muss man rechnen. Diese Menschen müssen in Krankenhäusern und Arztpraxen, auch in Deutschland, medizinisch versorgt werden.

esanum: Wie ist das organisiert, wenn eine Familie nachts in Berlin auf dem Hauptbahnhof ankommt?

Dr. Heinrich: Das ist inzwischen ein ziemlich geregeltes Verfahren. Sobald sie sich in der Ersteinrichtung melden, bekommen sie medizinische Behandlungsscheine oder auch bereits eine AOK-Karte. Damit können sie wie jeder andere im kassenärztlichen System versorgt werden, zuerst beim Hausarzt und dann per Überweisung bei den Fachärzten.

esanum: Wer zahlt die medizinische Versorgung der Ankommenden?

Dr. Heinrich: Wir rechnen über die kassenärztlichen Vereinigungen ganz normal ab und diese holen sich das Geld bei den Sozialbehörden wieder. Bis auf die Sprachbarrieren gibt es keine großen Hürden in der Versorgung der neu zu uns Kommenden.

esanum: Und wie können die niedergelassenen Kolleginnen die Verständigung managen?

Dr. Heinrich: Sie müssen selbst kreativ werden. Wir kommunizieren am besten immer gleich bei der Terminvergabe, dass die Patienten jemanden zur Verständigung mitbringen mögen, wenn möglich. Viele haben ja Verwandte hier. Manche Kolleginnen und Kollegen haben auch Mitarbeiterinnen, die die Sprache beherrschen.

esanum: Gibt es Erfahrungen, auf die man jetzt zurückgreifen kann?

Dr. Heinrich: Das ist letztlich wie 2015. Damals hatte es eine Weile gedauert, bis die Versorgung gesichert wurde. Anfangs war es sehr schwierig. Es gab verschiedene Abrechnungswege, das war zu kompliziert. Aber jetzt können wir auf das aufbauen, was damals geregelt wurde.

esanum: Es werden in den nächsten Wochen oder Monaten sehr viele Menschen erwartet. Was bedeutet das konkret für die medizinischen Versorgungslandschaft?

Dr. Heinrich: Wenn zuerst einmal alle ein Dach über dem Kopf haben, werden entsprechende medizinische Ressourcen gebraucht. Nehmen wir an, es kommen mehrere Millionen Menschen, dann wird es durchaus im System ruckeln. Wir können nicht so einfach in das bestehende System Millionen Menschen einfügen - und glauben, es läuft weiter wie gewohnt. Alle werden länger auf Termine, vielleicht auch auf OPs warten müssen, denn die Kapazität lässt sich nicht in dem Ausmaß hochfahren.

esanum: Wer muss sich jetzt kümmern, um eine Überforderung der Systeme abzufedern?

Dr. Heinrich: Dafür ist die Politik zuständig – die Bunderegierung und auch jeweils dort, wo die Vertriebenen landen. Jetzt geht es hauptsächlich darum, die Bevölkerung über die Situation zu informieren, zu erklären, wie die Lage ist und dass es zu Wartezeiten kommen wird. Da muss man sich ehrlich machen und zugeben: es wird eine schwierige Zeit, wenn wir Millionen Menschen zusätzlich versorgen müssen. Es geht um Kommunikation – wie fast immer.

esanum: Wie groß ist die Bereitschaft der Ärztinnen und Ärzte, in dieser besonderen Situation das Beste zu geben?

Dr. Heinrich: Die Bereitschaft ist sehr hoch. Das war schon 2015 so. Aber jetzt haben wir auch noch Corona gleichzeitig. Das darf man nicht vergessen.

esanum: Wie ist die gesundheitliche Situation und der Impfstatus unter den ankommenden Ukrainern?

Dr. Heinrich: Die Neupatienten werden auf alle Impfungen angesprochen, sobald sie zum Arzt kommen. Zahlen dazu sind mir noch nicht bekannt. Es soll auch Tuberkulosefälle geben, auch Masern. Das kennen wir schon von den Geflüchteten von 2015. Wir sind darauf eingestellt.

Kurzbiografie Dr. Dirk Heinrich 

Dr. Dirk Heinrich ist Facharzt für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde sowie für Allgemeinmedizin und Chirotherapie und als Kooperationsarzt am Marienkrankenhaus Hamburg tätig. Neben seinem Vorstandsvorsitz beim Spitzenverband für Fachärzte Deutschlands ist er auch Präsident des Deutschen Berufsverbandes der Hals-Nasen-Ohrenärzte und Bundesvorsitzender des NAV-Virchowbundes.