Computerassistierte Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie: Keine Zukunftsmusik

Beim Kongress der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie (DGCH) zeigte Prof. Nils-Claudius Gellrich von der Medizinischen Hochschule Hannover, wie Gesichter nach schweren Unfällen oder Tumoren mittels Computer-Assistenz nahezu vollständig wiederhergestellt werden können.

Mehr Mut zu modernen Lösungsansätzen

Gesichter nach schweren Unfällen oder Tumoren mittels Computer-Assistenz nahezu vollständig wiederherstellen? Das ist bereits heute möglich, so Professor Dr. med. Dr. med. dent. Nils-Claudius Gellrich, Kongresspräsident der Deutschen Gesellschaft für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie (DGMKG). In einer Pressekonferenz anlässlich des 138. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie (DGCH) vom 12. bis zum 16. April 2021 demonstrierte der Mediziner anhand zweier Beispiele, weshalb das Gesundheitssystem bei Investitionen in die chirurgische Konstruktion und Rekonstruktion mehr Mut aufzeigen sollte.

Virtuelle Planung, schablonengestützte Bohrvorgänge, Real-Time-Navigation und additive Fertigungstechniken: Möglichkeiten wie diese können bei schweren Tumoren oder Unfällen im Mund-, Kiefer- oder Gesichtsraum helfen, gesundheitliche wie optische Folgen zu lindern. Gellrich, der die Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie an der Medizinischen Hochschule Hannover leitet, macht sich für diese neuen Verfahren stark. Mit Ausblick auf den 138. DGCH-Kongress präsentierte der Mediziner anhand zweier Beispiele aus den Bereichen Trauma und Tumor, was mit patientenspezifischen 3D-Implantate bereits möglich ist.. 

Wie auch in anderen medizinischen Bereichen werde der Ideenreichtum in der chirurgischen Konstruktion und Rekonstruktion durch die aktuelle COVID-19-Pandemie vorangetrieben, so Gellrich. Die computerassistierte Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie sei allerdings kein grundsätzlich neuer Ansatz. Bereits seit zwei Jahrzehnten liege hier ein Schwerpunkt der Forschung. Davon profitieren sowohl PatientInnen als auch ChirurgInnen. "Chirurgen können heute dank modernster bildgebender Verfahren präoperativ planen und virtuelle Blaupausen für die Operation erstellen; sie können patientenspezifische Implantate aus Titan im 3D-Drucker herstellen und mittels intraoperativer Navigation dem Patienten einsetzen", wird Gellrich in einer Pressemitteilung zitiert. 

Verbesserte Qualitätssicherung von der präoperativen Phase bis zum Follow-up-Zeitraum 

Als erstes Beispiel berichtet Gellrich von einer Patientin, die ein schweres Schädelhirntrauma erlitten hatte. Ein Jahr nach der Primärversorgung konnte durch eine Korrektur des Mittelgesichts und der Augenhöhle rechts nur eine bedingte Arbeitsfähigkeit hergestellt werden. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen computerassistierter Chirurgie und Radiologie erwies sich als weitaus erfolgreicher: Mithilfe von 3D-Imaging und digitalem Workflow konnte die Therapie auf die Patientin individuell angepasst werden und die Augenhöhle per 3D-Druck rekonstruiert werden. Durch eine einmalige Korrektur-Operation unter voller Ausnutzung digitaler Planungs-, Fertigungs- Operations- und Kontrollmöglichkeiten konnte schließlich auch die Arbeitsfähigkeit nahezu vollständig wiederhergestellt werden.

Hier sieht Gellrich große Vorteile: Durch die erweiterte Ausnutzung aus medizinischer Indikation erstellter 3D-Bildgebung werde eine verbesserte Qualitätssicherung von der präoperativen Phase bis zum Follow-up-Zeitraum gewährleistet. "Wie kaum eine andere Technologie bietet die computergestützte Gesichtsschädelchirurgie und Navigation die Möglichkeit einer konsequenten Qualitätssicherung für ein spezialisiertes Fach", betont er. MedizinerInnen könnten digital rekonstruieren, was an welcher Stelle nachgestellt werden muss, und PatientInnen könnte digital gestützt erläutert werden, welche Eingriffe genau erfolgen. 

Operationen werden kürzer und seltener

Als zweites Beispiel für den Nutzen der computerassistierten Chirurgie zeigt Gellrich das Beispiel einer Patientin mit ausgedehnten Oberkieferkarzinom bei zusätzlichem multiplem Myelom. Mittels one-fit-only-Konstrukt konnte bei der Patientin innerhalb eines Tages die volle Kaufähigkeit wiederhergestellt werden. Somit sieht der Chirurg auch einen wichtigen Faktor im Zeitmanagement: PatientInnen müssten aufgrund der präoperativen Planungsmöglichkeiten kürzer und weniger häufig operiert werden. "Wir müssen Patienten nicht mehr mehrmals operieren, weil wir jetzt durch virtuelle Planung, Implantate aus dem 3D-Drucker, schablonengestützte Bohrvorgänge und Real-Time-Navigation die einzelnen Schritte des Knochen- oder Zahnersatzes maßgeschneidert durchführen können", so Gellrich.

Es gebe aber noch einen großen Wermutstropfen: Qualitätssicherung koste viel Geld, werde aber nicht adäquat honoriert. Nicht alle Kliniken hätten die entsprechende Infrastruktur, um computerassistierte chirurgische Eingriffe durchführen zu können. Deren Einführung und Umsetzung sei oftmals an persönlichen Enthusiasmus und vor allem an Drittmittelanträge gebunden. Daher sieht Gellrich Handlungsbedarf von Seiten des Gesundheitssystems. Doch der DGMKG-Kongresspräsident hat vor allem im Hinblick auf die nächste Generation große Hoffnungen: Junge ChirurgInnen seien bereits Digital Natives. Mehr Offenheit gegenüber modernen Behandlungsansätzen sei eine immer lauter werdende Forderung der nächsten Generation, um die bereits vorhandenen Expertise durch neue Technologien noch weiter auszubauen.

Referenzen:
1. Von 3D-Druckern bis zu patientenspezifischen Implantaten: Was moderne computerassistierte Techniken in der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie möglich machen - Professor Dr. med. Dr. med. dent. Nils-Claudius Gellrich; Online-Pressekonferenz anlässlich des 138. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie (DGCH), Mittwoch, 7. April 2021, 10.30 bis 12.00 Uhr
2. Pressemitteilung: Gesichts-OP nach schwerem Unfall oder Tumor: Was moderne, patientenspezifische 3-D-Implante möglich machen; 06. April 2021