COVID-19 in der Schweiz: Auf den Intensivstationen explodieren die Zahlen

In der Schweiz wurden am 4. November 363 COVID-19-Patienten auf der Intensivstation hospitalisiert, was 45% der Gesamtplätze ausmacht. Noch in der vergangenen Woche waren es 245 Fälle und vor zwei Wochen nur halb so viele. Nach den Prognosen des Bundesamtes für Gesundheit könnte die Sättigung der Intensivstationen bald erreicht sein.

"Am Rande einer gesundheitlichen Katastrophe"

In der Schweiz wurden am 4. November 363 COVID-19-PatientInnen auf der Intensivstation hospitalisiert, was 45% der Gesamtplätze ausmacht. Noch in der vergangenen Woche waren es 245 Fälle1 und vor zwei Wochen nur halb so viele. Nach den Prognosen des Bundesamtes für Gesundheit könnte die Sättigung der Intensivstationen bereits in kurzer Zeit erreicht sein.

Vor drei Wochen betreute das Freiburger Krankenhaus (HFR) noch 13 COVID-19-PatientInnen. Nur einer wurde beatmet. Am 4. November waren es bereits 181 PatientInnen, darunter 22 IntensivpatientInnen und 18 BeatmungspatientInnen. Das Durchschnittsalter der hospitalisierten PatientInnen liegt bei 70 Jahren. Am selben Tag fehlten 104 MitarbeiterInnen (darunter 37 Krankenschwestern und 5 Ärzte), weil sie selbst positiv getestet wurden. "Wir werden die Zahl der Intensivbetten durch den Personalmangel nicht wie im Frühjahr erhöhen können", warnt Govind Sridharan, Leiter der Intensivstation2. PatientInnen mussten bereits per Helikopter in Einrichtungen in anderen Kantonen verlegt werden. Durch die Zusammenarbeit mit Privatkliniken konnten zudem 35 Betten frei gemacht werden, darunter 5 Intensivbetten. 

Appell eines Freiburger Arztes

Der Weckruf von Dr. Nicolas Blondel, Facharzt für Allgemeine Innere Medizin am HFR, hat sich in sozialen Netzwerken verbreitet. Für die nächsten Tage erwartet er eine ähnliche Situation wie in der Lombardei während der ersten COVID-19-Welle.

"Wir stehen an der Schwelle einer gesundheitlichen Katastrophe. Alle Spitäler der Westschweiz stehen vor der Sättigung, und in mehreren Kantonen der Deutschschweiz beginnt sie. (...) Die Infektionsrate ist so hoch, dass jeder zweite von uns durchgeführte Test positiv ausfällt. (...)

Wenn es so weitergeht, werden wir wahrscheinlich am Dienstag, Mittwoch oder Donnerstag keinen Platz mehr haben (...) Ich glaube, die Menschen sind sich des Ernstes der Situation nicht bewusst (...) Diese Welle ist viel schlimmer (...) Hören Sie auf, denen zu glauben, die denken, dass alles in Ordnung ist. Wenn die gesamte Bevölkerung ihr Verhalten ändert, haben wir noch eine kleine Chance." Blondel richtet sich speziell an die Personen, die an zwei traditionellen Feiern des Kantons teilgenommen haben. "Die Patienten, die wir hospitalisierten, waren hauptsächlich Freiburger, die das Benichon oder das Recrotzon feierten. Im Moment gibt es sehr wenige Ausländer [im Kanton]".

Blondel bittet die FreiburgerInnen darum, auf Familien- und Privatfeiern zu verzichten und auf unfallgefährdete Freizeitaktivitäten: "Wir hatten an diesem Wochenende drei Polytraumapatienten. Ich frage mich, was wir mit dem nächsten Fall machen werden? Wir haben Probleme, die Qualität der Versorgung zu gewährleisten, weil das Krankenhauswesen völlig gesättigt ist".

Dramatische Situation auch in den anderen Kantonen

Im Centre Hospitalier Universitaire du Canton de Vaud in Lausanne hat sich die Zahl der COVID-PatientInnen innerhalb einer Woche verdoppelt. Täglich werden 50 neue Krankenhausaufenthalte registriert. Im Wallis sind alle Kliniken des Kantons - einschließlich der Rehabilitationseinrichtungen - aufgerufen, sich für die Betreuung von Nicht-COVID-PatientInnen einzusetzen. Die Transfers begannen am Dienstag. Einige Kliniken stellen einen Teil ihres Personals, darunter auch PhysiotherapeutInnen, öffentlichen Einrichtungen zur Verfügung. Die Genfer Universitätsspitäler beschreiben die Situation als "dramatisch" und sehen eine rasche Sättigung der Plätze in der Zwischen- und Intensivpflege voraus.

Neue Richtlinien für die Patienten-Triage

Die Richtlinien für die Patiententriage wurden im Frühjahr von der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) fertiggestellt. Der hinzugefügte Anhang befasste sich mit Triage-Entscheidungen im Falle von Ressourcenknappheit. Diese Richtlinien mussten aufgrund der Erhöhung der Krankenhauskapazität nicht umgesetzt werden. Eine vermehrte Triage am Eingang zur Intensivstation scheint jetzt jedoch unvermeidlich. Die SAMW hat deshalb in Zusammenarbeit mit der Schweizerischen Gesellschaft für Intensivmedizin ihre Richtlinien aktualisiert3

Für die Triage ist die Kurzfristprognose der entscheidende Faktor. Das Alter an sich ist kein Triage-Kriterium, ebenso wenig wie Demenz. Diese Faktoren sind jedoch Indikatoren für den Gesamtzustand eines Patienten. Um dies besser bewerten zu können, enthält die SAMW nun den Begriff "Gebrechlichkeit", der auf einer Skala von 1 bis 9 bewertet wird, die von "sehr fit" bis "terminal, mit einer Lebenserwartung von weniger als sechs Monaten" reicht. Darüber hinaus muss der Patientenwille weiterhin Priorität haben. Ressourcen sollten nicht für PatientInnen verwendet werden, die eine solche Behandlung nicht wünschen.

Dasselbe für die Palliativpflege

Auch die Fachgesellschaft Palliative Geriatrie (FGPG) hat weitere praxisorientierte Empfehlungen entwickelt. Dort heißt es: "Die Indikation zur Hospitalisierung multimorbider älterer PatientInnen mit COVID-19-Virus muss sorgfältig geprüft werden; eine Hospitalisierung ist nur bei Komplikationen der Begleiterkrankung angezeigt. Die meisten Menschen sterben lieber in ihrer gewohnten Umgebung als auf einer Intensivstation.

(...) Klare, wiederholte und gestaffelte Erklärungen ermöglichen es den PatientInnen, realistische Erwartungen zu haben und seine Wünsche und Entscheidungen selbstständig zu begründen (...) Informationen über den Schweregrad der Infektion und die schlechte Prognose der intensivmedizinischen Behandlung, aber auch über die Möglichkeiten der Palliativversorgung ermöglichen es dem Betroffenen, selbstbestimmt über die gewünschte Versorgung zu entscheiden. Die individuelle Entscheidung muss in Absprache mit den pflegenden Angehörigen getroffen werden und muss dokumentiert und jederzeit - zum Beispiel für Notärzte - zugänglich sein.

Verweigert ein Patient die stationäre Behandlung, muss eine Palliativversorgung am Wohnort des Patienten geplant werden. Rezepte sollten im Voraus auf erwartete Probleme erstellt und in einem Notfallplan dokumentiert werden. Medikamente müssen am Pflegeort verfügbar sein, ebenso wie die für ihre Anwendung notwendige Ausrüstung4."

Quellen:
1. Bericht über die epidemiologische Situation in der Schweiz und im Fürstentum Liechtenstein - Woche 44 (BAG)
2. RTS - Bericht Im Herzen der gesättigten Intensivstation des Freiburger Spitals
3. SAMW - Pandemie COVID-19: Triage von Intensivbehandlungen im Falle von Ressourcenknappheit
4. GFC - Pandemie COVID-19: Aspekte der Palliativpflege für ältere und gefährdete Menschen zu Hause und in der MCH