"Jetzt kann es nur noch gelingen"

PD Dr. Kilian Rittig (DDG) und Dr. Berthold Amann (DGA), Tagungspräsidenten der Diabetes Herbsttagung, sprechen im Interview über den gemeinsamen Kongress.

"Wir versorgen dieselben Patienten" – Im Gespräch mit den Tagungspräsidenten

esanum: 5 Wochen noch bis zur Eröffnung der Diabetes-Herbsttagung – das Programm ist seit einiger Zeit online: Gibt es noch viel zu tun? 

Kilian Rittig: Viel zu tun gibt es immer. 80 Prozent haben wir allerdings hinter uns. Jetzt geht es um den Feinschliff. Bis auf ein paar kleinere organisatorische Herausforderungen befinden wir uns auf der Zielgeraden.

Berthold Amann: Die große Entscheidung, dass die DDG und die DGA diese Tagung zusammen machen, ist bereits vor 6 Jahren getroffen worden. Seitdem ist viel Zeit vergangen, die Corona Pandemie liegt dazwischen. Es ist umso wichtiger, dass wir jetzt im Jahr 2022 diesen Kongress endlich gemeinsam umsetzen. Wir, die Diabetologen und Angiologen, arbeiten jeden Tag in der Klinik zusammen, wir versorgen dieselben Patienten, wir haben mitunter ein gemeinsames Ziel, nämlich die Vermeidung von Amputationen und das wollen wir in diesem Kongress rüberbringen. Jetzt kann es nur noch gelingen.

Ungefähr 80% der Amputationen der an Diabetes erkrankten Menschen gehen auf Durchblutungsstörungen der Beine zurück

esanum: Das Motto der Herbsttagung lautet: Diabetologie und Angiologie – Auf einem Bein kann man nicht stehen. Steht der eine ohne den anderen nicht gut da? 

Kilian Rittig: Definitiv. Das Motto ist zweideutig gewählt. Zum einen drückt es die Notwendigkeit des Zusammenarbeitens aus, zum anderen unser gemeinsames Bemühen, Amputationen zu verhindern. Nicht zuletzt ist es uns wichtig, dass wir mit diesem Kongress auch die jüngeren Kollegen ansprechen, wie wichtig es ist, dass beide Fächer zusammenarbeiten und dass wir zeigen, welches Potenzial darin liegt, die Doppelausbildung zu ergreifen. Wichtig ist, dass die zwei Fächer, die gar nicht auseinander zu definieren sind, auch gemeinsam gelehrt und gelebt werden. Herr Dr. Amann und ich sind beide Diabetologen und Angiologen, das ist in Hinblick auf eine ganzheitliche Versorgung unserer Patienten die Zukunft.

Berthold Amann: Das kann ich nicht besser ausdrücken. Es ist auch so, dass Patienten diese teilweise artifizielle Trennung nicht wahrnehmen. Für die Patienten ist es wichtig zu wissen: Wer kümmert sich um mein Bein? Wer verschließt meine Wunde? Wer kümmert sich nebenher um meinen Zucker? Oder andersherum: Wer kümmert sich vor allem um die Durchblutung? Wichtig ist, dass beide Fachdisziplinen dafür sorgen, dass am richtigen Patienten zur richtigen Zeit kompetent behandelt wird. Wenn wir das mit dem Kongress erreichen, ist viel getan.

esanum: Welche weiteren Ziele haben Sie sich vorgenommen?

Kilian Rittig: Mit unserem gleichzeitigen digitalen Angebot, das es neben den Präsenzveranstaltungen geben wird, wollen wir zeigen, dass wir in der Lage sind, komplexe Themen auch online darzustellen und man solche Kongresse auch gemeinsam abhalten kann. 

Berthold Amann: Wir wollen beide Fächer mehr zusammenbringen. Und damit meinen wir nicht nur unsere Fachgesellschaften, sondern auch irgendwann fassbar in einer engeren Versorgungsrealität der Patienten, sei es ambulant oder stationär. Der Kongress soll möglichst in die Breite wirken. Deswegen haben sich beide Fachgesellschaften dazu entschieden, fast alle gemeinsamen Veranstaltungen auch im Stream anzubieten.

Die Subtypen werden in den nächsten 5-10 Jahren die Diabetologie ziemlich auf den Kopf stellen

esanum: Was werden die Schwerpunktthemen sein?

Kilian Rittig: Aufgrund der Zusammenarbeit der beiden Fachgesellschaften die Verhinderung von Amputationen zum einen. Infolgedessen nimmt das Diabetische Fußsyndrom einen wichtigen Stellenwert ein. Zum anderen werden wir die Rolle der Ernährung beleuchten, sowohl für die Therapie und Vorbeugung des Diabetes als auch für die Prävention von arteriosklerotischer Erkrankungen bis hin zu Amputationen. Einen weiteren diabetologischen Schwerpunkt, den ich setzen möchte, ist die verstärkte Analyse der Subtypen des Typ 2 Diabetes, die - wie sich immer mehr zeigt - mit einem unterschiedlichen kardiovaskulären Risiko einhergehen und mittelfristig einen Einfluss auf die Therapierealität der Typ 2 Diabetiker in Deutschland haben werden.Und wenn sich die Daten bewahrheiten, was aktuell ganz danach aussieht, werden die Subtypen in den nächsten 5-10 Jahren die Diabetologie ziemlich auf den Kopf stellen.

Berthold Amann: Als Deutsche Gesellschaft für Angiologie stehen wir natürlich für die Durchblutung und man muss wissen, dass ungefähr 80% der Amputationen der an Diabetes erkrankten Menschen auf Durchblutungsstörungen der Beine zurückgehen, d.h. wenn wir diese gut therapieren, können wir Amputationen reduzieren. Es wird Live Cases geben, wo wir zeigen, wie Angiologen verschlossene Adern bei Patienten mit Diabetischem Fußsyndrom wieder öffnen und dadurch die Durchblutung verbessern. Wir wollen in diesen Workshops vor allem demonstrieren, was man mittlerweile alles erreichen kann. Sie können z.B. heute in der Leiste mit einem dünnen Katheter reingehen und bis in den großen Zeh die Durchblutung wiederherstellen. Das war vor zehn Jahren undenkbar. Es wird auch einen Workshop geben zum Thema Vor- und Nachsorge, wo man sich zum Gefäßtrainer ausbilden lässt, mit anschließendem Zertifikat, das man gegenüber der Krankenkasse abrechnen kann. Das wird viel zu selten angeboten. Besonders auch das Pflege- und Assistenzpersonal hat auf dem Kongress sehr viele Möglichkeiten, Neues zu erfahren.

esanum: Wo sehen Sie in Deutschland momentan die größten Lücken in der sektorenübergreifenden Versorgung im Bereich Diabetologie und Angiologie?

Kilian Rittig: Deutschland ist da ein ziemlicher Flickenteppich. Das liegt zum Teil an der  Verfügbarkeit der entsprechenden Ärzte vor Ort, zum Teil auch an bestimmten Krankenkassenverträgen. Es gibt auch Regionen, wo überhaupt keine Sektorengrenzen mehr zu spüren sind. In vielen Krankenhäusern geht es sehr stark darum, welche Abteilung wie viel Umsatz macht. Wenn man die Hürden in der Abrechnung von stationären Patienten zwischen den Abteilungen abbauen würde, käme das nicht nur den Patienten zugute, sondern würde sogar die Erlöse steigern. Ein Gefäß-Diabetes-Zentrum, das die Patienten wirtschaftlich einheitlich behandelt, wäre für alle ein Gewinn. Da ist noch viel Luft nach oben.

Berthold Amann: Ich kann dem nur massiv zustimmen. Die Zentrumsbildung ist für die Patienten das A und O. Dort, wo wir die Kerndisziplinen der Behandler des diabetischen Fußes vereinen, müssen die Patienten hin. Das funktioniert in einigen Krankenhäusern sehr gut. Das funktioniert auch ambulant in einigen Regionen gut. Dennoch gibt es in den Flächenländern nicht genügend Gefäßmediziner, das ist ein relativ seltener Beruf. Umso wichtiger ist, dass man Zentren bildet, dass Ärzte Ansprechpartner haben, auch wenn sie in unterversorgten Gebieten leben. Auch das ist ein Ziel unseres Kongresses, dass wir eine Vertrautheit mit dem anderen Fach schaffen und Schwellenängste abgebaut werden.

esanum: Wo steht Deutschland bzgl. der Prävention und Verhinderung von Folgeschäden des Diabetes Mellitus heute?

Berthold Amann: In der St.Vincent Deklaration, einer Absichtserklärung weltweiter Diabetesgesellschaften, die unter der Ägide der WHO 1989 in St.Vincent Italien, verfasst wurde, hat man sich zum Ziel gesetzt, innerhalb von 5 Jahren die Anzahl der Amputationen beim Diabetischen Fußsyndrom um die Hälfte zu reduzieren. Da sind wir heute noch nicht angekommen.

Kilian Rittig: Was man aber sagen muss, ist, dass wir die Amputationshöhe schon deutlich reduziert haben. Die Majoramputationen gehen zurück. Dafür gehen die Minoramputationen nach oben…

Berthold Amann: Wir opfern einen Zeh, um das Bein zu erhalten. 

Kilian Rittig: Das Problem ist, dass die Amputation eines Fußes deutlich schneller geht, d.h. das Bett ist viel schneller wieder frei und es ist ungefähr dreimal so gut vergütet, als der aufwendige Versuch, den Fuß zu erhalten, wo die Patienten teilweise 3-5 Wochen liegen. Das kostet mehr Zeit und ist wesentlich schlechter vergütet. Grund dafür ist das DRG-System (Diagnosis Related Groups), das Vergütungssystem an den Krankenhäusern. Ich unterstelle keinem, dass er leichtfertig einen Fuß abschneidet - es sind vor allem die falschen wirtschaftlichen Anreize, die gesetzt werden.

Auch bei nur kurzem Diabetesverlauf kann eine schwere arterielle Verschlusserkrankung bestehen

esanum: Ihr Tipp für die Hausärzte: Wann sollten Patienten zum Diabetologen, wann zum Angiologen überwiesen werden?

Kilian Rittig: Prinzipiell gilt, wenn bei einem Patienten Diabetes, egal welcher Typ, vom Hausarzt diagnostiziert wird, auch wenn die Therapie unkompliziert bleibt und der Verlauf in der Zuckereinstellung keine Probleme darstellt, der Patient mindestens einmal nach der Diagnose vom Diabetologen gesehen werden sollte. Ganz wichtig sind auch die DMPs (Disease Management Program), die nicht nur der Diabetologe machen kann, sondern auch der Hausarzt, indem der Patient mindestens 1 Mal im Quartal gesehen wird, wozu auch die regelmäßige Fußuntersuchung gehört. Und spätestens wenn dann Pathologien auftreten, muss er zur weiteren Diagnostik zum Angiologen geschickt werden. Dazu gehört auch das Screening aller anderen Gefäßregionen.

Berthold Amann: Man muss sich klar machen, dass bereits bei der Diagnosestellung des Typ 2 Diabetes bei über der Hälfte der Patienten  schon Gefäßschäden vorliegen. Auch bei nur kurzem Diabetesverlauf kann, aufgrund der  anderen  Arterioskleroseursachen – Rauchen, Blutdruck, etc., schon eine schwere arterielle Verschlusserkrankung bestehen…

Kilian Rittig: Und umgekehrt sollte man bei jedem Patienten mit einem arteriellen Gefäßproblem daran denken, dass Diabetes als Ursache dahinter stecken kann und dann testen.

esanum: Herr Dr. Amann, zu Ihren Behandlungsschwerpunkten zählt auch die Zelltherapie, die - wenn andere Therapien nicht mehr ansprechen - eingesetzt werden kann, um Amputationen zu verhindern. Von welchen aktuellen Entwicklungen auf diesem Gebiet können Sie uns kurz berichten?

Berthold Amann: Die Entwicklung der Zelltherapie ist wellenförmig. In den 2000er Jahren gab es eine große Euphorie, später haben wir gesehen, dass der Einsatz in der Breite nicht das ist, was Erfolg versprechend ist. Man muss die Patienten sehr genau aussuchen. Dazu kommt, dass die Weiterentwicklung der Interventionen der Kathetertechniken, der Stents, der gefäßchirurgischen Möglichkeiten schon vieles an Verbesserung bei der Durchblutung gebracht hat. Für die Zelltherapie haben wir zwar noch genügend Fälle, das sind aber Patienten, die am Ende der Fahnenstange angekommen sind. Die behandeln wir dann mit Zellen. Die meisten Zentren, die mit der Zelltherapie arbeiten, verwenden  Zellen aus dem eigenen Knochenmark des Patienten, wo sich Reparatur- und Vorläuferzellen befinden. Dann gibt es noch einige Gruppen, die sich mit Vorläuferzellen aus Fettgewebe oder ex vivo  gezüchteten Hautzellen beschäftigen, die  dann  Verbesserung der Wundheilung auf die Wunde als gezüchtetes Blatt aufgebracht werden können. Wir im Franziskuskrankenhaus Berlin behandeln etwa 10-15 Patienten mit fortgeschrittenen Durchblutungsstörungen mit autologer Knochenmarkstherapie jährlich. 

esanum: Herr Dr. Rittig, Sie haben sich nach langer Kliniktätigkeit in diesem Jahr mit einer eigenen Praxis niedergelassen, mit den Schwerpunkten auf Allgemeinmedizin, Diabetologie und Angiologie. Welche Unterschiede sehen Sie im Vergleich zur Klinik?

Kilian Rittig: Ich bin jetzt erst die 3. Woche in der Niederlassung, das ist eine ganz andere Welt. Man bekommt die Patienten nicht mehr vorgefiltert in die Praxis, die ein auf Deine Fachrichtung zugeschnittenes  Problem haben, sondern wir sehen zunächst alle möglichen Fälle. Verglichen mit der Klinik ist auch die Schlagzahl in der Niederlassung eine andere. Ein bisschen schade ist, dass die Differentialdiagnostik in der Ambulanz nur noch zu einem gewissen Grad möglich ist. Man muss leider häufig Patienten in stationäre Hände geben, wenn diese gerade beginnen interessant zu werden. Eine weitere Kehrseite ist, dass man an der Lösung eines kniffligen Patientenfalls nicht mehr unmittelbar beteiligt ist, sobald die ambulante Versorgung nicht mehr ausreicht. Doch bis jetzt habe ich es nicht bereut, für mich überwiegen die Vorteile der Niederlassung. Ich bin immer noch einen Tag in der Klinik, zu der ich meine Patienten schicken kann, ich bin also immer noch bei der Problemlösung dabei.