Deutschland droht bei der Medizinforschung ins Hintertreffen zu geraten

Mehr als 600 Biotech-Firmen gibt es in Deutschland. Viele von ihnen arbeiten an neuen Medikamenten - etwa gegen Krebs oder Alzheimer. Die Forschung ist teuer, für Start-ups schier unbezahlbar. Deswegen fordert die Branche steuerliche Anreize für Investoren.

Biotech-Startups haben es in Deutschland vergleichsweise schwer

Mehr als 600 Biotech-Firmen gibt es in Deutschland. Viele von ihnen arbeiten an neuen Medikamenten - etwa gegen Krebs oder Alzheimer. Die Forschung ist teuer, für Start-ups schier unbezahlbar. Deswegen fordert die Branche steuerliche Anreize für Investoren.

Die bayerische Biotech-Szene setzt Maßstäbe bei der Entwicklung neuer Arzneimittel. An guten Ideen und schlauen Köpfen mangele es nicht - Geld fehle umso mehr, heißt es aus der Branche. Ein bis zwei Milliarden Euro kostet es, bis ein neuer Wirkstoff als Medikament in der Apotheke zu kaufen ist. Für viele Start-ups eine zu hohe Hürde. Deswegen werden erfolgversprechende Neugründungen meist von Pharmariesen aufgekauft. Jüngstes Beispiel: Die Übernahme der Rigontec GmbH aus dem Gründerzentrum IZB in Martinsried bei München durch den US-Konzern Merck.

Um ihre medizinische Forschung voranzutreiben, brauchen die Biotech-Firmen neben Fachwissen und Fachleuten vor allem jede Menge Geld. Vor potenziellen Investoren stellen sie ihre Ideen und Projekte vor, um Kapital einzuwerben. In ersten Finanzierungsrunden könnten dabei zwei oder drei Millionen Euro herausspringen, sagt Peter Zobel, Geschäftsführer des IZB - in den USA sogar bis zu 100 Millionen. Würde man den Firmen hier auch gleich richtig Geld geben, könnten sie sich auf ihre Forschung konzentrieren und müssten nicht ständig um die nächste Million kämpfen.

Nur wenige Firmen erhalten viel Wagniskapital

Rigontec gehört zu den Ausnahmen hierzulande. Die Firma bekam auf Anhieb 15 Millionen Euro. "Da dachte ich mir, Wahnsinn", sagt Zobel. Dann sorgte die Firma iOmx für einen weiteren Paukenschlag: Das ebenfalls in Martinsried ansässige, erst 2016 gegründete Unternehmen sammelte in der ersten Finanzierungsrunde gut 40 Millionen Euro ein. Jüngst gab die Firma Immunic aus dem IZB eine A-Runde über 31 Millionen Euro bekannt.

Erfolgsmeldungen, die nicht darüber hinweg täuschen, dass es die Biotech-Szene in Deutschland finanziell eher schwer hat. In anderen Ländern motivieren Steuervergünstigungen Investoren, Start-ups zu unterstützen. Als eines der wenigen OECD- und EU-Mitgliedstaaten fördere Deutschland Forschung und Entwicklung steuerlich nicht, sagt ein Sprecher des bayerischen Wirtschaftsministeriums. "Deutschland droht ins Hintertreffen zu geraten."

Entwicklung neuer Medikamente ist teuer und zeitaufwändig

Jeder Firmengründer wolle sein Medikament selbst auf den Markt bringen, sagt Zobel. "Aber vor dem Hintergrund, dass es 15 Jahre dauert und zwei Milliarden Euro kostet, muss man an einem bestimmten Punkt abwägen, ob es nicht sinnvoller ist, zu verkaufen." Allein der Test eines Wirkstoffes an Patienten koste 300 Millionen oder mehr. Das sei für viele Gründer der Punkt, an dem sie loslassen müssten.

Ein großer Pharmakonzern habe nicht nur das Geld, sondern auch die Erfahrung und die Vertriebsstrukturen, um das Medikament in die Apotheken und an die Patienten zu bringen. "Wir reden ja letztlich immer über den Weltmarkt, und da braucht man einen schlagkräftigen Partner", sagt Zobel. Das könne eine kleine Firma nicht leisten. "Insofern ist es ein notwendiges Übel, die Firma dann zu verkaufen."

Deutsche Wissenschaft kann attraktiv sein

Ähnlich argumentiert Christian Schetter, Geschäftsführer von Rigontec. Die Firma ist 2014 aus einem Forschungsprojekt der Universität Bonn hervorgegangen und auf Immuntherapien für Krebspatienten spezialisiert. Ihr wichtigstes Produkt ist in einer frühen klinischen Entwicklungsstufe und soll später zur Tumor-Behandlung eingesetzt werden.

Die Übernahme durch Merck belege, "dass wir eine sehr gute Wissenschaft in Deutschland haben" und zumindest ansatzweise alles, "um das Ganze in die Kommerzialisierung zu bringen". Es spreche ja für das Produkt, "dass man für jemanden wie Merck - eine der Topfirmen im Bereich der Immunonkologie - attraktiv genug ist, sich darum zu bemühen".

Investitionen sind mit hohem Risiko verbunden

Der US-Konzern will damit sein Geschäft in der Krebstherapie voranbringen. Dafür zahlt er den Rigontec-Anteilseigern 115 Millionen Euro und weitere 349 Millionen Euro bei Erreichen bestimmter Meilensteine. Der Standort im IZB soll erhalten bleiben.

Nicht jedes Medikament schafft die Zulassung, Geldgeber gehen ein großes Risiko ein. "Bei Biotech reicht die Bandbreite vom Verlust des kompletten eingegebenen Kapitals bis hin zur Versiebenfachung", sagt Zobel. Viele reiche Deutsche geben ihr Geld eher in soziale oder kulturelle Projekte. Hier wünscht sich die Branche mehr Risikofreude bei Investoren - und steuerliche Anreize.

Es sei ja nicht unüblich, dass unter zehn Firmen auch drei oder vier Komplettverluste seien, sagt Schetter. "Bei uns werden Risikokapitalgebern überall Steine in den Weg gelegt. Es wird nicht honoriert, dass er etwas finanziert, das so ein hohes Risiko hat."

Stephen Yoder, Geschäftsführer der in Boston und Freising ansässigen Firma Pieris, sagt zur Biotechnologie: "Man betritt medizinisches und technisches Neuland. In wohl kaum einer anderen Industrie sind die Entwicklungszyklen so lang, wird so viel investiert, um aus einem Prototypen ein fertiges Produkt zu entwickeln." Deswegen sollte es Investoren leichter gemacht werden.

Seine Firma hat jüngst mit zwei Milliardendeals mit der französischen Servier-Gruppe und dem britischen AstraZeneca-Konzern für Aufsehen in der Branche gesorgt. Pieris arbeitet mit Molekülen, die in der Lunge und in Tränenflüssigkeit vorkommen. Technisch verändert, sollen sie als Arznei bei Krebs und Atemwegserkrankungen helfen, erklärt Yoder. Aber in den USA gebe es nicht nur leichter Risikokapital, auch ein Börsengang sei einfacher. Und "In Boston gibt es noch mehr Fachkräfte für die klinische Entwicklung von Medikamenten".

Das Bundesfinanzministerium betont, das Angebot an Wagniskapital sei bereits ausgebaut worden. Über Fonds und Förderinstrumente stünden in den nächsten Jahren zwei Milliarden Euro als zusätzliches staatliches Wagniskapital bereit, sagt ein Sprecher. Zudem sei geplant, die jährlichen Zusagen der KfW-Bank auf 200 Millionen Euro zu verdoppeln. Steuerhilfen seien nicht erforderlich.