„Deutschland nimmt bei Arzneimittelpreisen eine Spitzenposition ein“

esanum-Gespräch mit Ulrike Elsner, Vorsitzende des Vorstandes beim Verband der Ersatzkassen e. V. (vdek), über die Preisfestsetzung für Medikamente in Deutschland Fast 700 Euro für eine Tablette od

esanum-Gespräch mit Ulrike Elsner, Vorsitzende des Vorstandes beim Verband der Ersatzkassen e. V. (vdek), über die Preisfestsetzung für Medikamente in Deutschland

Fast 700 Euro für eine Tablette oder 60.000 Euro für eine 84-Tabletten Packung? An diesem Preis für das Medikament Sovaldi des Herstellers Gilead zur Behandlung von Hepatitis C entzündete sich in den vergangenen Tagen eine aufgeregte Debatte zwischen Pharmaunternehmen, Politikern und Vertretern der Krankenkassen um eine angemessene Höhe der Medikamentenpreise. Auf der einen Seite stehen die Pharmaunternehmen, die teilweise Milliardenbeträge über bis zu 15 Jahre für die Entwicklung und Zulassung eines neuen Wirkstoffs oder verbesserten Medikaments investieren und diese Ausgaben nach der Markteinführung möglichst schnell wieder verdienen wollen. Auf der anderen Seite argumentieren die Krankenkassen, deren Ziel es ist, ihre Ausgaben für Medikamente möglichst gering zu halten, die Kosten seien gerade im ersten Jahr nach Markteinführung zu hoch.

„Um überhöhte Preise in den ersten zwölf Monaten zu verhindern, sollten die mit dem GKV-Spitzenverband verhandelten Erstattungspreise rückwirkend – also mit dem ersten Monat des Inverkehrbringens – gelten und nicht erst ab dem 13. Monat“, fordert Ulrike Elsner, seit Juli 2012 Vorsitzende des Vorstandes beim Verband der Ersatzkassen e. V. (vdek) im Gespräch mit esanum. Sie betont aber auch, dass Medikamente bei einem Zusatznutzen für die Patienten möglichst schnell auf den Markt kommen sollen.

esanum: Unter welchen Voraussetzungen ist aus Ihrer Sicht der Preis für ein Medikament gerechtfertigt?
Elsner: Hat der Pharmahersteller von der nationalen oder europäischen Zulassungsbehörde eine Zulassung für sein neues Medikament erhalten, kann er dieses in Deutschland vertreiben und zunächst einen von ihm frei bestimmbaren Preis festsetzen. Das ist in anderen Ländern anders geregelt, was dazu führt, dass sich die Preise für ein und dasselbe Medikament europa- und weltweit deutlich voneinander unterscheiden. Deutschland nimmt dabei eine Spitzenposition ein, was die Höhe der Arzneimittelpreise betrifft und dient demzufolge als Referenzpreisland für weltweit mehr als 80 Staaten.

Neben den reinen Herstellungskosten schlägt die Pharmaindustrie auch die Kosten für Forschung und Entwicklung sowie Marketing und Vertrieb auf den Preis auf. Zudem sind fast alle großen Pharmaunternehmen börsennotiert und dem „Shareholder-Value“ verpflichtet. Bei neuen, patentgeschützten Medikamenten nutzen die Pharmahersteller vielfach ihre Marktmacht und betreiben eine Hochpreispolitik. Die Kosten liegen dann um ein Vielfaches über den reinen Herstellungskosten. Erst durch die mit dem Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) eingeführten Preisverhandlungen für neu auf den Markt gekommene Arzneimittel, die unter die Regularien der „frühen Nutzenbewertung“ fallen, wurde es dem GKV-Spitzenverband ermöglicht, Einfluss auf die Preise zu nehmen.

Entscheidend für die Krankenkassen ist der Zusatznutzen eines neuen Medikaments. Für neu auf den Markt kommende Arzneimittel mit neuen Wirkstoffen wird deshalb zunächst eine „frühe Nutzenbewertung“ durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) durchgeführt. Die Nutzenbewertung ist eine wissenschaftliche Begutachtung zur Zweckmäßigkeit eines Arzneimittels und beschreibt, ob und in welchem Ausmaß ein Zusatznutzen im Vergleich zu einer bereits am Markt befindlichen Therapiealternative für das neue Arzneimittel besteht.

esanum: Nach welchen Kriterien erfolgt derzeit die Preisfestsetzung? Wie sollte dieser Prozess zukünftig gestaltet sein?
Elsner: Die Nutzenbewertung durch den G-BA selbst erfolgt innerhalb von drei Monaten. Nach ihrer Veröffentlichung hat der G-BA weitere drei Monate Zeit, einen Beschluss über den Zusatznutzen zu fassen, um damit einen rechtlich tragfähigen Rahmen für die sich daran anschließenden Preisverhandlungen zu schaffen. Die Verhandlungen dieses so genannten Erstattungsbetrages zwischen dem GKV-Spitzenverband und dem jeweiligen Pharmaunternehmen erfolgen innerhalb von weiteren sechs Monaten. Kommt in dieser Zeit kein Verhandlungsergebnis zustande, entscheidet eine eigens dafür eingesetzte Schiedsstelle über den Erstattungsbetrag, der dann rückwirkend ab dem 13. Monat nach der Einführung des neuen Arzneimittels gilt.

Faktisch haben die Pharmahersteller damit eine Schonfrist von zwölf Monaten, bis es zu einer Preisregulierung im Rahmen von Preisverhandlungen kommt. Um überhöhte Preise in den ersten zwölf Monaten zu verhindern, sollten die mit dem GKV-Spitzenverband verhandelten Erstattungspreise rückwirkend – also mit dem ersten Monat des Inverkehrbringens – gelten und nicht erst ab dem 13. Monat.
esanum: Welche Möglichkeiten besitzen die Krankenkassen, um Einfluss auf die Preisgestaltung zu nehmen?
Elsner: Bei neuen Medikamenten mit Patentschutz geschieht dies im Rahmen der Preisverhandlungen auf Basis der frühen Nutzenbewertung durch den G-BA. Darüber hinaus besteht durch den GKV-Spitzenverband auch die Möglichkeit zur Festsetzung von Festbeträgen für Arzneimittel beziehungsweise Arzneimittelgruppen. Einzelkassen können durch den Abschluss von individuellen Rabattverträgen mit den Arzneimittelherstellern eine wirtschaftlichere Versorgung der Versicherten erreichen. Mit Ablauf des Patentschutzes eines Präparates dürfen auch andere Hersteller wirkstoffgleiche Arzneimittel auf den Markt bringen (Generika). Erfahrungsgemäß setzt dies einen Preiswettbewerb in Gang, der dann tatsächlich spürbar zu sinkenden Arzneimittelpreisen führt.

esanum: Kontrovers diskutiert wird derzeit das Hepatitis-C-Medikament Sovaldi, bei dem eine Tablette bis zu 700 Euro kostet. Andererseits soll das Medikament einen Zusatznutzen besitzen und zu weniger Nebenwirkungen führen. Wie beurteilen Sie diesen Fall?
Elsner: Dem Medikament wurde vom G-BA ein Zusatznutzen bescheinigt. Die dabei zugrunde gelegten positiven Effekte des Medikaments bezweifeln wir deshalb überhaupt nicht. Allerdings berechtigt dies unseres Erachtens noch lange nicht dazu, zum Vertriebsstart Mondpreise für das Medikament zu verlangen. Etwa 60.000 Euro verlangt der Hersteller Gilead für die 84 Tabletten zur Behandlung von Hepatitis C. Drei Monate nach Markteinführung hat das Mittel den dritten Platz der umsatzstärksten Arzneimittel in der gesetzlichen Krankenversicherung eingenommen. Bis Mai betrugen die Ausgaben nur für dieses Medikament 123 Millionen Euro. Geht diese Entwicklung so weiter, so ist im Gesamtjahr 2014 mit einem Ausgabenvolumen von mehreren hundert Millionen Euro zu rechnen. Hinzu kommt, dass die wenigsten behandelten Patienten eine ausschließliche Hepatitis-C-Infektion aufweisen. Meist steht diese Krankheit mit weiteren Hochrisiko-Problemen im Zusammenhang, wie zum Beispiel Drogenkonsum, Alkoholismus oder HIV-Infektion.

esanum: Für welche Medikamente geben die Krankenkassen jährlich die höchsten Beträge aus? Gibt es weitere Medikamente, bei denen die Kosten-Nutzen-Relation Ihrer Meinung nach unverhältnismäßig ist?
Elsner: Bei den Arzneimitteln mit den höchsten Nettokosten für die gesetzliche Krankenversicherung handelte es sich im Jahr 2013 im Schwerpunkt um Präparate zur Behandlung der rheumatoiden Arthritis oder der multiplen Sklerose. Unter den TOP 10 waren außerdem vertreten ein Präparat zur Thrombose- und Schlaganfallprophylaxe und zwei Präparate zur Behandlung von Asthma.

Die Nettokosten der zehn umsatzstärksten Arzneimittel lagen 2013 für die gesetzliche Krankenversicherung bei über drei Milliarden Euro. Insbesondere im Bereich der Krebstherapie oder der seltenen Erkrankungen (orphan drugs) kommen zahlreiche neue Medikamente und Wirkstoffe auf den Markt, für die die Pharmahersteller zumeist horrende Preise verlangen, bevor es nach einer „Schonfrist“ von zwölf Monaten zu einer Preisregulierung durch Preisverhandlungen mit dem GKV-Spitzenverband kommt. Weitere Beispiele für die Hochpreispolitik der Pharmahersteller sind das Medikament Yervoy zur Behandlung von Hauttumoren bei Erwachsenen, mit einem Verkaufspreis von mehr als 14.000 Euro (40-ml-Abpackung) oder das Arzneimittel Kalydeco zur Behandlung der zystischen Fibrose (Verkaufspreis 22.000 Euro je Packung) – beides Medikamente, die nach 2011 auf den Markt gekommen sind. Solche Preise sind auch nicht mit den Kosten für Herstellung und Entwicklung dieser Präparate begründbar.

esanum: Wie beurteilen Sie die Verschreibepraxis der Ärzte bei sehr teuren Medikamenten? Spielt für die Mediziner der Preis eine Rolle?
Elsner: Das ist aus Kassensicht nur schwer durchschaubar. Auf der einen Seite gewinnen neue Arzneimittel selbst mit attestiertem Zusatznutzen nur schwer die zu erwartenden Marktanteile, wohingegen Arzneimittel ohne Zusatznutzen gegenüber der zweckmäßigen Vergleichstherapie erstaunlich erfolgreich im Markt agieren. Die Kosten für ein Arzneimittel spielen zudem selbst im Falle einer Wirtschaftlichkeitsprüfung nur dann eine Rolle, wenn bezogen auf den Einzelfall eine therapeutisch gleichwertige aber preiswertere Alternative verfügbar gewesen wäre, die genauso gut hätte eingesetzt werden können. Dadurch wird ein potentielles Regressrisiko im Falle der Verordnung auch hochpreisiger Medikamente mehr als minimiert.

Interview Birgit Fischer vfa
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