DGIM History: Gemeinsam gegen das Vergessen

Die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin blickt unter "Gedenken und Erinnern" auf ihre NS-Vergangenheit zurück. Dabei werden sowohl Opfer als auch Täter wieder greifbar.

Die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin in der Zeit des Nationalsozialismus

1932, im letzten Jahr der Weimarer Republik, blickte die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin mit 1.223 Mitgliedern der fragilen politischen Lage zum Trotz mit Stolz auf ihr 50-jähriges Bestehen zurück. Schon ein Jahr später – und in den darauffolgenden 12 Jahren – war es vorbei mit der Einigkeit unter den Internisten: Etwa 250 Mitglieder wurden nach Kriterien der Nationalsozialisten zwischen 1933 und 1940 als Juden eingestuft, waren Verfolgung ausgesetzt und aufgrund der Umstände zur Flucht ins Ausland gedrängt, die Zahl aktiv Widerstand Leistender fiel vergleichsweise gering aus – und über 50 Mitglieder der DGIM waren aktiv an den Verbrechen der Nationalsozialisten, etwa Humanexperimenten in Konzentrationslagern, beteiligt.

Auf dieses Geschichtskapitel der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin weist das 2011 von der DGIM mit den Historikern Dr. Ralf Forsbach und Prof. Dr. Hans-Georg Hofer (beide Universität Münster) ins Leben gerufene Projekt "DGIM – Gedenken und Erinnern" hin. Ziel des schwierigen Projekts – die DGIM verfügt über kein eigenes Archiv und nur wenige historische Unterlagen blieben erhalten – war es, Hauptlinien der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und der fachgesellschaftlichen Entwicklung nach 1945 sowie die Rolle der Fachgesellschaft und ihrer Mitglieder in der NS-Zeit zu erarbeiten. In Form der Webpräsenz "DGIM History" hat die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin eine virtuelle Gedenkstätte geschaffen, die Opfer- und Täterbiographien ins Licht der Öffentlichkeit rückt.

Prof. Georg Ertl und Dr. Ralf Forsbach zu DGIM History

Medizinische Fachgesellschaften müssen sich historischer Verantwortung stellen

Am 17.02.2022 unternahm die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin einen weiteren Schritt in der Aufarbeitung ihrer Geschichte in der NS-Zeit: Am ehemaligen Wohnort von Kurt Henius und seiner Familie in der Landgrafenstraße 9, Berlin, verlegte der Künstler Gunter Demnig auf Initiative der Fachgesellschaft sechs Stolpersteine in Gedenken an Familie Henius. DGIM-Generalsekretär Prof. Dr. Georg Ertl und der Historiker Dr. Ralf Forsbach erinnerten an das Leben und Wirken von Kurt Henius, der im Februar 1938 die Flucht nach Belgien ergreifen musste. Dabei anwesend war auch seine jüngste, 1942 geborene Tochter Marianne Dupont mit ihrer Familie. Hier zeigte sich auch die Problematik unvollständiger Quellen: Bis vor wenigen Wochen war die familiäre Bindung überhaupt nicht bekannt, wie Dr. Forsbach betont – erst Duponts Schwiegertochter wurde zufällig auf die geplante Veranstaltung aufmerksam. 

Auch der Präsident der Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt, wohnte der Stolpersteinverlegung bei, begrüßte die Initiative der DGIM und fand treffende Worte. Es habe lange gedauert, bis sich der schwer belastete Berufsstand der Ärzteschaft mit der eigenen Geschichte zur Zeit des Dritten Reiches auseinandergesetzt habe. Aufklärungsarbeit in den Fachgesellschaften habe erst vor allem seit dem Ende der 1980er Jahre stattgefunden. Dabei betont der Ärztepräsident: Für die Verbrechen der NS-Zeit gebe es keine Verjährung. Eine Kultur des Gedenkens und Erinnerns sei entscheidend, um das geschehene niemals zu vergessen – und Stolpersteine seien seiner Ansicht nach ein entscheidender Teil davon.
Prof. Georg Ertl mahnte eindringlich, geschehenes Unrecht dürfe niemals in Vergessenheit geraten: "Jetzt ist es höchste Zeit, dass dieses Vergessen aufhört." Glücklicherweise sei die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin heute nur eine von allen medizinischen Fachgesellschaften, die sich aktiv mit ihrer Rolle in der NS-Zeit auseinandersetzen. 

Bildergalerie: Stolpersteinverlegung für Kurt Henius

Vertriebene DGIM-Mitglieder: die Geschichte von Kurt Henius 

Anschließend an die Stolpersteinverlegung ließ Dr. Ralf Forsbach Erinnerungen an das Leben und Wirken von Kurt Henius aufleben. Henius, 1882 in Thorn als zweiter Sohn einer jüdischen Familie geboren, zog bereits in jungen Jahren mit seiner Familie nach Berlin. Anschließend an seine Promotion assistierte Henius an der II. Medizinischen Klinik der Charité Berlin Friedrich Kraus und Gustav von Bergmann, habilitierte sich 1927 im Fach Innere Medizin und wurde Privatdozent. Die Ernennung zum nichtbeamteten außerordentlichen Professor erfolgte 1930. 1933, nach der nationalsozialistischen Machtübernahme, wurde Henius entlassen und verlor darüber hinaus infolge des "Reichsbürgergesetzes" 1935 seine Lehrbefugnis. Im Februar 1938 sah sich der Mediziner gezwungen, gemeinsam mit seiner Familie nach Luxemburg zu fliehen. Dort überlebte Henius zwar die Besatzungszeit durch die Nationalsozialisten ab 1940, verstarb allerdings 1947, zweieinhalb Jahre nach der Befreiung Luxemburgs, im Alter von 65 Jahren. Doch auch Schikane und Verfolgung durch die Nationalsozialisten hinderten  den Mediziner laut Dr. Forsbach nicht daran, weiterhin Menschen zu helfen: Kurt Henius kümmerte sich darum, Menschen medizinische Hilfe zukommen zu lassen, die unter dem NS-Regime keine Versorgung erhielten. 

Darüber hinaus hinterließ Kurt Henius auch in der Inneren Medizin seine Spuren: Seine Publikationen setzten unter anderen mit Ätiologie und Therapie der Tuberkulose auseinander, Besonderes Interesse zeigte der Mediziner auch an onkologischen Fragestellungen und behandelte diese Thematik 1928 auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin. 
Mit der Stolpersteinverlegung soll nun sichergestellt werden, dass Henius’ Wirken und Handeln nie in Vergessenheit geraten – für seine Tochter Marianne eine "wunderbare und unerwartete Überraschung."