Die unsichtbare Epidemie: Warum täglich 800 Menschen lautlos ertrinken

Im Jahr 2021 starben über 295.000 Menschen durch versehentliches Ertrinken. Der aktuelle WHO-Bericht fordert, das Tempo zu ändern, selbst in Europa, wo die Zahlen zwar sinken, aber Kinder weiterhin besonders gefährdet sind.

Jeden Tag verlieren über 800 Menschen ihr Leben im Wasser

Ertrinken fordert jährlich fast 300.000 Menschenleben – eine erschreckende Bilanz, die der neue „WHO Global Status Report on Drowning Prevention 2024" eindrucksvoll belegt. Die aktuellen Daten aus dem Jahr 2021 dokumentieren weltweit 295.210 Todesfälle durch versehentliches Ertrinken und unterstreichen damit eine der am stärksten unterschätzten, dabei jedoch vollständig vermeidbaren Todesursachen unserer Zeit. Fast 60 % der Opfer sind unter 30 Jahre alt und über 21 % sind Kinder unter 5 Jahren. In vielen Ländern ist Ertrinken immer noch eine der häufigsten Ursachen für Kindersterblichkeit.

Ein ungleiches Risiko

Das Risiko ist nicht gleichmäßig verteilt. Die Regionen Westpazifik und Südostasien verzeichnen jeweils rund 83.000 Todesfälle pro Jahr, gefolgt von Afrika (77.000), dem östlichen Mittelmeerraum (36.000), dem amerikanischen Kontinent (16.500) und schließlich Europa (9.155 Todesfälle). Bei den Sterblichkeitsraten weist Afrika jedoch mit 5,7 Todesfällen pro 100.000 Einwohner die höchste Rate auf, verglichen mit 1,0 in Europa.

Wenn man Länder mit unterschiedlichen Einkommen vergleicht, sind die Unterschiede noch deutlicher: 92 % der Todesfälle ereignen sich in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen, wo die Wahrscheinlichkeit, durch Ertrinken zu sterben, mehr als dreimal so hoch ist wie in reichen Ländern. Faktoren wie das Fehlen von physischen Barrieren, mangelnde Kinderbetreuung, fehlende Infrastruktur und Schwierigkeiten bei Rettungsaktionen spielen dabei eine Rolle.

Europa: bedeutende, aber ungleiche Fortschritte

Europa, mit 9.155 Todesfällen im Jahr 2021, macht nur 3 % der weltweiten Gesamtzahl aus. Das Risiko ist jedoch nicht verschwunden. Die internen Unterschiede sind erheblich: Die Raten variieren von Land zu Land um mehr als das Zehnfache, was die unterschiedliche Gefährdung (geografische Umgebung, kulturelle Gewohnheiten, Zugang zu Schwimmunterricht) und die Qualität der Präventionspolitik widerspiegelt.

Kinder und Jugendliche: die unsichtbaren Opfer

Ertrinken ist eine der häufigsten Todesursachen bei Kindern und Jugendlichen, wird aber oft in der öffentlichen Debatte und auf der gesundheitspolitischen Agenda vernachlässigt. Laut WHO machen Kinder unter 5 Jahren 21 % aller weltweiten Ertrinkungstodesfälle aus (über 62.000 Todesfälle im Jahr 2021), gefolgt von Kindern im Alter von 5 bis 14 Jahren (19 %) und jungen Menschen im Alter von 15 bis 29 Jahren (14 %). Insgesamt sind fast sechs von zehn Opfern unter 30 Jahre alt. Die Verletzlichkeit kleiner Kinder ist mit mehreren Faktoren verbunden:

Bei Kindern im Schulalter und Jugendlichen erstreckt sich das Risiko auf unbeaufsichtigte Freizeitaktivitäten, die Nutzung unsicherer Boote oder risikoreiches Verhalten im Zusammenhang mit . Migranten- oder Flüchtlingsjugendliche, die oft gezwungen sind, Meere oder Flüsse zu überqueren, sind ebenfalls besonders gefährdet.

Der WHO-Bericht betont, dass diese Todesfälle weitgehend vermeidbar sind, aber oft unterschätzt oder nicht angemessen erfasst werden. Nur 31 % der teilnehmenden Länder sammeln Daten über den Ort des Geschehens (Fluss, Schwimmbad, Meer usw.), und weniger als 30 % erfassen Informationen über die Aktivität, die zum Zeitpunkt des Ertrinkens ausgeführt wurde (Spiel, Transport, Arbeit usw.). Der Mangel an qualitativ hochwertigen Daten erschwert die Planung gezielter Maßnahmen.

Viele dieser Todesfälle ereignen sich oft nur wenige Meter vom Haus entfernt, im Hinterhof, in einem Bewässerungskanal oder in einem nicht umzäunten privaten Schwimmbad. In diesen Fällen genügen wenige Zentimeter und ein paar Minuten Unachtsamkeit, damit eine Tragödie geschieht. Im Gegensatz zu anderen Ursachen für den versehentlichen Tod ist Ertrinken schnell, leise und oft ohne Hilfe.

Auch Überlebende bleiben nicht ohne Folgen: Es wird geschätzt, dass auf jeden Todesfall mindestens 4–5 Fälle von nicht-tödlichem Ertrinken kommen, von denen viele zu dauerhaften neurologischen Schäden führen. Bei Kindern, die einen Ertrinkungsunfall überleben, führt die Sauerstoffunterversorgung des Gehirns häufig zu bleibenden motorischen und kognitiven Schäden.

Die WHO fordert daher einen Paradigmenwechsel: Ertrinken darf nicht länger als unvermeidbarer Unfall abgetan werden, sondern muss als zentrale Aufgabe der Kindergesundheit verstanden werden – mit einem interdisziplinären Ansatz, der Kinderärzte, , Pädagogen und Gesundheitspolitiker gleichermaßen in die Verantwortung nimmt. Die Aufnahme von Modulen zur Wassersicherheit in die Lehrpläne der Schulen, die Förderung sicherer häuslicher Umgebungen und die Umsetzung von gemeindebasierten Überwachungs- und Elternunterstützungsprogrammen sind wesentliche Instrumente zur Risikoreduzierung in diesen Altersgruppen.

Kein Kind sollte aufgrund mangelnder Aufsicht, mangelndem Zugang zu Schwimmunterricht oder strukturellen Mängeln sterben. Und kein Arzt sollte das präventive Potenzial seiner Rolle in dieser Herausforderung ignorieren.

Prävention beginnt in der Gemeinschaft (und bei Ärzten)

Der WHO-Bericht widmet einen ganzen Abschnitt den gemeinschaftlichen Interventionen und der Rolle, die medizinische Fachkräfte bei der Prävention spielen können. Die wirksamsten Maßnahmen, die kostengünstig und in verschiedenen Kontexten anwendbar sind, umfassen:

Diese Initiativen können bei sektorübergreifender Koordination (Gesundheit, Bildung, Katastrophenschutz, Stadtplanung) die Häufigkeit von Ertrinken erheblich verringern. Die Bilanz der 52 europäischen Länder, die am WHO-Bericht teilnahmen, ist ernüchternd: Lediglich 21 % haben Schwimmunterricht verbindlich in ihre nationalen Lehrpläne integriert. Noch schlechter sieht es bei der Betreuung der Jüngsten aus – nur 18 % verfügen über aktive Aufsichtsprogramme für Vorschulkinder.

Medizinische Fachkräfte, insbesondere Kinder- und Familienärzte, können auf verschiedene Weise beitragen: von der Identifizierung häuslicher Risiken über die Teilnahme an gemeindebasierten Schulungsprogrammen bis hin zur direkten Beteiligung an Schul- oder Gemeinschaftsprogrammen zur Schulung und Sensibilisierung.

Weiterführende Informationen zur Ertrinkungshilfe:

Quelle:
  1. World Health Organization. Global status report on drowning prevention 2024. Geneva: World Health Organization; 2024. Report No.: WHO/HEP/ECH/2024.01. ISBN: 978-92-4-010396-2.