Die Wanderung der weiblichen mitochondrialen DNA (Teil II)

Nachdem Prof. Dr. Reinhard Renneberg bereits den "Wanderspuren" seiner eigenen DNA nachging, verfolgt er dieses Mal den Wanderweg der weiblichen mitochondrialen DNA am Beispiel einer Kollegin.

Die untersten Äste: Abstammungslinie "Eva" > L1/L0 

Weitere Beiträge aus der Reihe:


Der Text basiert auf dem Bericht vom Genographic Project an Ka Yi Claire Ma.

Die Mitochondriale Eva, unsere Ur-Mutter, repräsentiert die Wurzel des menschlichen Stammbaumes. Ihre Nachfahren wanderten in Afrika umher und spalteten sich schließlich in zwei verschiedene Gruppen auf, deren Mitglieder durch unterschiedliche Mutationssätze gekennzeichnet sind. Man bezeichnet diese beiden Gruppen als Haplogruppe L0 und Haplogruppe L1. 

Die Angehörigen dieser beiden Gruppen weisen in ihren DNA-Sequenzen die größten Unterschiede auf, die unter allen heute lebenden Menschen zu finden sind, und repräsentieren daher die untersten Äste des mitochondrialen Stammbaumes. Noch wichtiger: Wie aktuelle genetische Daten zeigen, gibt es ausschließlich in Afrika Ureinwohner, die zu diesen Gruppen gehören. Einige Afrikaner unterscheiden sich interessanterweise deutlicher genetisch voneinander als z. B. Europäer von Afrikanern!

Da alle Menschen einen gemeinsamen weiblichen Vorfahren – nämlich "Eva" – haben und alle genetischen Daten zeigen, dass Afrikaner die ältesten Gruppe auf der Erde sind, können wir folgern, daß unsere Spezies hier entstanden ist. Die Haplogruppen L0 und L1 entwickelten sich wahrscheinlich in Ostafrika und breiteten sich von dort auf den übrigen Kontinent aus. Heutzutage findet man diese Abstamungslinien am häufigsten bei den Eingeborenenvölkern Afrikas, den Jäger-und-Sammler-Gruppen, welche die Kultur, die Sprache und Bräuche ihrer Ahnen über Tausende von Jahren bewahrt haben. 

Nachdem diese beiden Gruppen für wenige Tausend Jahre nebeneinander in Afrika gelebt hatten, geschah auf einmal etwas sehr Bedeutendes:  Die mitochondriale Sequenz einer Frau aus der Haplogruppe L1 mutierte. Ein Buchstabe in ihrer DNA veränderte sich, und weil viele ihrer Nachfahren bis in die Gegenwart hinein überlebt haben, öffnet diese Veränderung ein Fenster in die Vergangenheit. 

Die Nachfahren jener Frau mit dieser wegweisenden Mutation, bildeten anschließend eine eigene Gruppe, die Haplogruppe L2. Weil die Ahnin von L2 ein Mitglied der Gruppe L1 war, können wir Aussagen über die Entstehung dieser wichtigen Gruppen treffen: Eva begründete L1 und L1 begründete L2. 

Nun beginnen wir die Reise in Claires genetische Abstammungslinie. 

Haplogruppe L2: Westafrika 

Menschen der L2-Gruppe findet man in Afrika südlich der Sahara und wie ihre L1-Vorfahren ebenfalls in Zentralafrika bis in den tiefsten Süden nach Südafrika. Während L1/L0-Individuen vorwiegend im östlichen und südlichen Afrika blieben, schlugen Claires Vorfahren eine andere Richtung ein. 

L2-Individuen findet man am häufigsten in Westafrika, wo sie die Mehrheit der weiblichen Abstammungslinien bilden. Und weil L2-Individuen in großer Zahl auftreten und in Westafrika weit verbreitet sind, repräsentieren L2-Haplotypen eine der vorherrschenden Abstammungslinien der Afro-Amerikaner. Leider lässt sich nur schwer genau feststellen, wo die L2-Linie entstanden sein könnte. Für einen Afro-Amerikaner  aus der Haplogruppe L2 – wahrscheinlich ein Nachkomme von Westafrikanern, die im Zuge des Sklavenhandels nach Amerika gelangten – kann man nicht mit Sicherheit sagen, wo genau in Afrika die Linie entstanden ist. 

Haplogruppe L3: Wanderung out of Africa nach Norden 

Claires nächster wegweisender Vorfahr ist die Frau, mit deren Geburt vor ungefähr 80.000 Jahren die Haplogruppe L3 entstand. Es ist wiederum die gleiche Geschichte: Bei einem Individuum der Gruppe L2 kam es zu einer Mutation in der mitochondrialen DNA. Diese wurde an die Nachkommen weitervererbt. Die Kinder überlebten, und deren Nachkommen lösten sich letztendlich vom L2- Clan und spalteten sich schließlich zur neuen Gruppe namens L3 ab. 

L3-Individuen findet man zwar im gesamten Afrika, einschließlich des südlich der Sahara gelegenen Gebiete. Ihre wirkliche Bedeutung liegt jedoch in ihren Wanderungsbewegungen nach Norden. Diese Wanderung können Sie auf der Karte (siehe Teil I)  nachvollziehen; sie zeigt die erste Ausbreitung von L1/L0, dann L2, gefolgt von der Wanderung von L3 nach Norden. 

Claires L3- Vorfahren waren die ersten Menschen, die Afrika verließen und repräsentieren somit die untersten Äste des Stammbaumes außerhalb dieses Kontinents. Heutzutage findet man Menschen der L3- Gruppe sehr häufig in den Populationen Nordafrikas. Von dort aus wanderten Mitglieder dieser Gruppe in wenige unterschiedliche Richtungen. Manche Linien innerhalb der L3-Gruppe zeugen von einem ausgeprägten Expansionsverhalten im mittleren Holozän, das in Richtung Süden stattfand, und sind in vielen Bantu-Gruppen in ganz Afrika vorherrschend. Eine Gruppe wandte sich nach Westen und ist in erster Linie auf das atlantische Westafrika beschränkt, einschließlich der Kapverdischen Inseln. 

"Andere L3- Individuen, Ihre Vorfahren, wanderten noch weiter nach Norden und verließen schließlich alle den afrikanischen Kontinent. Diese Menschen stellen mittlerweile etwa 10% der Population im Nahen Osten dar. Aus ihnen wiederum entstanden zwei wichtige Haplogruppen, die schließlich den Rest der Welt besiedelten." 

- Auszug aus der Mail vom Genographic Institute

Haplogruppe N: Die Inkubationszeit 

Die nächste von Claires wegweisenden Vorfahren ist die Frau, deren Nachkommen die Haplogruppe N bildeten. Die Haplogruppe N bildet eine von zwei Gruppen, die aus den Nachfahren von L3 hervorgingen. Die Haplogruppe N war das Ergebnis der ersten großen Wanderungsbewegung des modernen Menschen außerhalb Afrikas. Diese Menschen verließen den Kontinent wahrscheinlich über das Horn von Afrika in der Nähe von Äthiopien, und ihre Nachkommen folgten der Küstenlinie ostwärts, um schließlich bis hin nach Australien und Polynesien zu kommen. 

Haplogruppe B : Ein Ast des Stammbaumes 

Eine Gruppe dieser frühen N-Individuen setzte sich in die zentralasiatischen Steppen ab und machte sich, ihrem Jagdwild über große Entfernungen folgend, auf ihren eigenen Weg. Vor rund 50.000 Jahren begannen die ersten Mitglieder aus Claires Haplogruppe B ganz Ostasien zu besiedeln. Die Reise ging dann weiter, bis schließlich auch Nord- und Südamerika und ein Großteil Polynesiens besiedelt waren. 

"Ihre Haplogruppe entstand wahrscheinlich in den Hochebenen Zentralasien zwischen dem Kaspischen Meer und dem Baikalsee. Sie ist eine der wichtigsten Abstammungslinien Ostasiens und umfasst gemeinsam mit den Haplogruppen F und M rund drei Viertel aller mitochondrialen Abstammungslinien, die man heutzutage dort findet." 


Ausgehend von ihrer zentralasiatischen Heimat breiteten sich Claires entfernte Vorfahren, die Begründer der Haplogruppe B, in die umliegenden Gebiete aus, wandten sich alsbald auch nach Süden und besiedelten ganz Ostasien. Heutzutage gehören ca. 17% aller Menschen im Südosten Asiens und ungefähr 20% des gesamten chinesischen Genpools der Haplogruppe B an. 

Die Gruppe zeigt eine sehr weite Verbreitung entlang der Pazifikküste von Vietnam nach Japan – und in geringerem Umfang (ungefähr 3%) unter den Ureinwohnern Sibiriens. Wegen ihres hohen Alters und des gehäuften Auftretens im gesamten östlichen Eurasien ist es weitgehend anerkannt, daß diese Abstammungslinie auf die ersten Menschen zurückzuführen ist, die in diesem Gebiet siedelten. Im nördlichen Eurasien und in Sibirien eigneten sich die Menschen der Haplogruppe B, die Erfahrung im Überleben der harten Winter in Zentral- und Ostasien hatten, besonders gut für die beschwerliche Überquerung der erst kurz zuvor entstandenen Bering-Landbrücke. 

Während des letzten eiszeitlichen Maximums vor 15.000 bis 20.000 Jahren banden die niedrigeren Temperaturen und das trockenere globale Klima einen Großteil der Süßwassers der Erde im Eis der Polkappen und machten ein Überleben in weiten Teilen der nördlichen Hemisphäre nahezu unmöglich. Eine wichtige Folge dieser Vereisung war jedoch, dass der Osten Sibiriens und der Nordwesten Alaskas vorübergehend durch eine gewaltige Eisdecke miteinander verbunden waren. 

Mitglieder der Haplogruppe B, die an der Küste fischten, folgten ihr. Heute ist die Haplogruppe B eine von fünf mitochondrialen Abstammungslinien, die innerhalb der amerikanischen Ureinwohner zu finden sind, und zwar sowohl in Nord- als auch in Südamerika. Die Haplogruppe B ist zwar sehr alt (ungefähr 50.000 Jahre), die geringe genetische Variabilität auf den beiden amerikanischen Subkontinenten läßt jedoch darauf schließen, daß diese Abstammungslinien erst innerhalb der letzen 15.000 bis 20.000 Jahre hier ankamen, sich dann aber schnell dort ausbreiteten.  

Durch neuere Ausbreitungsereignisse scheint eine Untergruppe der Abstammungslinien von Haplogruppe B von Südostasien nach Polynesien gelangt zu sein. Diese Linie wird als B4 bezeichnet (das bedeutet die vierte Untergruppe innerhalb B) und ist durch eine Reihe von Mutationen gekennzeichnet, die eine erhebliche Zeit benötigten, um sich auf dem eurasischen Kontinent anzureichern. Diese nahe verwandte Untergruppe von Abstammungslinien breitete sich wahrscheinlich innerhalb der letzten 5.000 Jahre von Südostasien nach Polynesien aus und ist besonders auf den Inseln in großer Häufigkeit zu finden. Dazwischen liegende Linien – die nur einige, aber nicht alle B4-Mutationen aufweisen – findet man in den Bevölkerungen von Vietnam, Malaysia und Borneo. 

Das macht es wahrscheinlich, dass die polynesischen Linien in diesen Teilen Südostasiens entstanden sind. 

Ausblick: Wohin geht die Reise? 

Auch wenn der Pfeil von Claires Haplogruppe momentan jenseits von Afrika südlich der Sahara endet, bedeutet dies dennoch nicht das Ende der Reise von Haplogruppe B. Ab hier werden die genetischen Schlüsse unklar, und ihre DNA-Spur verläuft im Sand. Die hier dargestellten vorläufigen Ergebnisse basieren auf dem heutigen Wissensstand, der ist aber erst der Anfang. Grundlegendes Ziel  ist es, diese DNA-Spuren bis in die heutige Zeit weiterzuverfolgen.

Persönliches Fazit

Nach dem Lesen des ausführlichen Berichts vom Genographic Institute begannen Claire und ich, unsere DNA-Wanderwege zu vergleichen. Es war recht informativ, den Ort und die Zeit herauszufinden, als ihre Ur-Ur-Ur-Ur (usw.)-Großmutter meinem Ur-Ur-Ur-Ur (usw.)-Großvater in der unbekannten Sprache der damaligen Zeit sagte: 

"Okay, mein dickköpfiger Liebster, hier müssen wir uns trennen! Du gehst nach Westen, ich nach Osten – aber sei unbesorgt, unsere Ur-Ur-Urenkel werden sich in wenigen Tausend Jahren in einer großen Stadt wiedertreffen! Viel Glück!" 


Sie hatte Recht! 
 

Referenzen
  1. Renneberg, Reinhard et al. (2022, in Vorbereitung): Biotechnologie für Einsteiger (6. Auflage), Springer Spektrum, Heidelberg.