"Digitalisierung – Quo vadis?"

Fünf Milliarden medizinische Dokumente entstehen jedes Jahr in Deutschland – die Hälfte davon liegen ausschließlich in Papierform vor. Zustände wie im letzten Jahrtausend.

Bei der Digitalisierung muss mehr getan werden

Fünf Milliarden medizinische Dokumente entstehen jedes Jahr in Deutschland – die Hälfte davon liegen ausschließlich in Papierform vor. Zustände wie im letzten Jahrtausend.

Auf dem DKOU-Kongress im Oktober in Berlin war darum auch Digitalisierung ein großes Thema. Dr. Dominik Pförringer von der Universitätsklinik Rechts der Isar referierte unter dem Titel: "Digitalisierung – Quo vadis?" esanum fragt nach.

esanum: Wie wurde ihr Vortrag auf dem DKOU-Kongress aufgenommen?

Pförringer: Also wenn Sie über dieses Thema unter Ärzten sprechen,    sind Sie erst mal "der Teufel himself", weil es etwas ist, wovor viele Ärzte, besonders einige ältere, Angst haben bzw. worauf sie mit Ablehnung reagieren. Das ist wie wenn Sie versuchen, in der Katholischen Kirche Mitgliedscheine für die Zeugen Jehovas zu verkaufen.

esanumDennoch wird die Digitalisierung die Prozesse im Krankenhaus verändern. Wie?

Pförringer: In erster Linie hofft man, dass die Prozesse effizienter und effektiver werden, damit mehr Zeit den Patienten zugute kommt und weniger Zeit für versorgungsfremde Prozesse verloren geht, u. a. für Dokumentation und Verwaltungsaufwand. Wir arbeiten noch vielfach mit veralteter Technik, was unrealistisch hohen Aufwand bedeutet und teilweise auch Doppelarbeit zur Folge hat.

esanum: Ist die Umstellung auf neue Techniken schon in vollem Gange?

Pförringer: Das kann man so leider noch nicht sagen. Ich bitte bei meinen Vorträgen immer um Handzeichen, wer von den Kollegen schon eine "digitale Klinik" oder auch nur eine sogenannte "digitale Patientenakte" verwendet. Bei ersterem kommt sehr wenig positives Feedback, bei der digitalen Patientenakte sind es manchmal 15 bis 20 Prozent. Und im Anschluss kommen dann Kollegen auf mich zu, die laut eigener Aussage im Begriff befindlich sind, Teile umzustellen, jedoch an bürokratischen, technischen und finanziellen Hürden scheitern.

esanum: In welchen Bereichen wird sich Digital Health abspielen?

Pförringer: Es gibt ja keine allgemeingültige Definition von Digital Health. Das Feld steckt jeder für sich so ab, wie er es für richtig hält und sieht die Grenze individuell.

Es geht am unteren Ende der medizinischen Skala mit dem Thema Wearable los - für uns Ärzte oft eher ein "nice to have". Allerdings kann zum Beispiel der Diabetologe, der zu mehr Bewegung geraten hat, mit einem solchen Gerät das Monitoring verbessern und zu mehr Compliance motivieren. Ein medizinisches Gerät ist der Bewegungssensor dadurch noch nicht. Zu diesem reinen Schrittmesser kommt zunehmend auch ein digitales EKG, das über ein Arm- oder Brustband abgeleitet wird. Da wird es schon medizinischer.

Bei den echten gesundheitsbezogenen Themen stellt sich die Frage, welche Form der Behandlung wir in der Interaktion des Patienten mit der Medizin digitalisieren können und es sowohl Patient als auch Arzt ermöglichen wollen. Da geht dann die echte Digitalisierung in der Medizin los. In Zukunft kann ein Großteil der Interaktion der beteiligten Gruppen vor und nach dem eigentlichen Arztbesuch auf digitalem Weg ablaufen. Sogar die Kommunikation zwischen Arzt und Patient wird teilweise digital stattfinden. Das heißt nicht, dass sich der Patient mit einem Roboter unterhält, sondern dass er seine Daten dem Arzt bereits im Vorfeld digital zur Verfügung stellt und umgekehrt, dass der Arzt danach seine Dokumentation dem Patienten digital zukommen lässt. Wir sehen jetzt noch sehr oft sogenannte Medienbrüche. Das heißt, dass wir Dinge digital erfassen, dann ausdrucken, dem Patienten mitgeben und dann wird das Ganze beim nächsten Arzt oder Behandlungsschritt wieder digital erfasst. Das ist bei Medikamentenlisten der Fall und teilweise auch bei Röntgenbefunden. So ein Medienbruch birgt immer das Risiko eines Informations- und Zeitverlustes. Zudem stellt er eine potenzielle Fehlerquelle dar.

Als zentralen Punkt kann das Goldene Dreieck: Patient – Arzt – Kostenträger gesehen werden. So gesehen wird nicht nur die Arzt-Patienten-Interaktion digitalisiert werden, sondern auch die Kommunikation zwischen Patient und Kostenträger. Auch die Rechnungstellung vom Arzt an den Kostenträger kann vereinfacht werden.

Ganz wesentlich und zukunftsträchtig: Die Interaktion zwischen verschiedenen Ärzten. Es ist natürlich extrem attraktiv, wenn die Daten, die in einer anderen Praxis gewonnen wurden, in der nächsten, die ein Patient betritt, schon vorliegen. Idealerweise in digitaler Form, um weiter bearbeitet, ergänzt und archiviert werden zu können

esanum: Was sagt der Datenschutz dazu?

Pförringer: All das geschieht natürlich nur, wenn der Patient die Weitergabe seiner Daten ausdrücklich erlaubt und dieser zustimmt.

esanum: Und will der Patient das denn? Kann jeder Achtzigjährige überhaupt nachvollziehen, was da passiert?

Pförringer: Es muss einfach und sinnvoll sein und schnell Mehrwert für möglichst viele der Beteiligten bringen. Und denen, die keine digital Natives sind, muss man ein wenig helfen.

esanum: Was passiert denn nun derzeit konkret?

Pförringer: Der Fortschritt läuft an den meisten Stellen langsam und zäh ab. Es fehlt an Mitteln und Personal zur Implementierung neuer Lösungen. Zu Beginn gibt es zudem natürliche Reibungsverluste. Mittelfristig werden sich nur diejenigen Systeme durchsetzen, deren Anpassungsaufwand niedrig ist und deren Mehrwert rasch sichtbar wird. Man kann zum Beispiel die Zeit im Wartezimmer dazu nutzen, die wesentlichen Fragen zur Anamnese auf beispielsweise einem Handheld zu beantworten, so dass der Arzt sie dann sofort vorliegen hat. Hierzu lassen sich moderne Algorithmen, Deep Learning und auch Artificial Intelligence Ansätze nutzen. Das spart allen Beteiligten Zeit und ist oft vollständiger, da die essentiellen Fragen der Reihe nach beantwortet werden können und nichts vergessen wird. Das kann ein Schritt in die richtige Richtung darstellen.

esanum: Sie sprechen vom Digital Health Markt – welche Segmente beinhaltet er? Welche Umsätze macht er?

Pförringer: Man kann von fünf verschiedenen Segmenten sprechen: Prävention, Kontrolle, Diagnostik, Behandlung, Verwaltung. Sie alle werden allmählich digital durchdrungen. Der E-Health-Umsatz lag im Jahr 2015 in Deutschland bereits bei ca. 300 Millionen Dollar. Das hängt natürlich stark davon ab, wie Sie den Markt definieren. Die genannte Zahl umfasst die gesamte Wertschöpfungskette im Digital-Health-Segment - u. a. die Umsätze moderner E-Health-Angebote. Wichtig ist es hierbei zu erwähnen, dass Lösungen wie die App MySugr oder Caspar Health oder Teleclinic die Solidarkassen auf lange Sicht entlasten werden.

esanum: Da ist aber noch Luft nach oben?

Pförringer: Absolut, auch für die Allgemeinheit. Wir können zum Beispiel über die Wearables den Einzelnen zu gesünderem Leben animieren – das wird sich volkswirtschaftlich auswirken. Das kann man aber nur auf Dauer über Skaleneffekte messen. Wenn wir zum Beispiel durch das Indoor-Rauchverbot einen niedrigeren Prozentsatz an Rauchern haben, dann kann man nach einigen Jahren erkennen, inwiefern dadurch die Inzidenz des Bronchial-Karzinoms sinkt. So ein Zusammenhang zeigt sich beispielsweise auch bei der Tatsache, dass die Cola-Flasche in den USA 2 Liter hat und in Deutschland 0,5 Liter. Eine Folge: in den USA gibt es deutlich mehr Diabetiker. Das sind Zusammenhänge, die real sind, aber schwer messbar. Bei Digital-Health-Effekten ist es ähnlich. Das wird einige Zeit und komplexe Methoden in Anspruch nehmen. Wie so oft bin ich der festen Überzeugung, dass das Gute sich durchsetzen wird.

esanum: Welche Faktoren treiben das Wachstum des Marktes an?

Pförringer: Zum einen die zunehmende Digitalisierung der Gesellschaft. Von 15 bis 95 hängt heutzutage jeder mehr oder minder kontinuierlich am Smartphone. Zum Zweiten ist Gesundheit ein Megatrend, das heißt, der Einzelne setzt sich deutlich mehr mit seiner Gesundheit auseinander als das vor zehn Jahren der Fall war. Der Ausbau der Netzkapazität schreitet voran, erlaubt uns, Daten rasch und ortsungebunden zu verwerten. Zudem steigt die Akzeptanz der Patienten ihre Daten zu teilen, also dem Arzt oder der Öffentlichkeit Aktivitäten und Gesundheitszustände mitzuteilen.

esanum: Wie sind die Einstellung und die Erwartung unter den Ärzten?

Pförringer: Das hängt von diversen Faktoren wie der Fachrichtung, dem Alter und dem Tätigkeitsfeld und sogar dem Ort ab, wie ich eingangs schon sagte. Dazu führe ich gerade eine groß angelegte Studie unter Ärzten und Patienten durch. Wir wollen verstehen, was welche Berufsgruppe sich wovon erwartet. Fortgeschrittene ärztliche Kollegen neigen vielleicht zu noch Ressentiments, weil sie sich nicht vorstellen wollen, was mit ihrem Beruf in Zukunft geschehen wird. Der klassisch-diagnostische Radiologe beispielsweise, der große Teile des Tages Bilder auswertet, der darf damit rechnen, dass ihm demnächst ein technisches Medium zur Verfügung steht, das ihn bei dieser Analyse von Röntgenbildern assistieren wird. Der eine sieht es als Chance, der andere als Bedrohung.

Aber ich bin überzeugt, der Arzt wird nicht von der künstlichen Intelligenz ersetzt werden – nur diejenigen, die sich moderne Mittel zunutze machen, werden ihre Kollegen, die da zurückhaltender sind, rasch und deutlich überholen. Denn der technisch souveräne Arzt wird sich viel mehr auf seine Kernaufgabe konzentrieren können, wenn er lästige bürokratische Aufgaben obsolet machen oder wenigstens zeitlich stark reduzieren kann. Wer sich dafür öffnet, ist begeistert. Ein gutes Beispiel ist die strukturierte Befundung von Röntgenaufnahmen mittels Spracherkennung. Das spart Zeit, damit auch Kosten, was beides den Patienten zu Gute kommen wird. In vielen personalintensiven Bereichen wird die digitale Assistenz Patienten in strukturschwachen Regionen überhaupt erst den Zugang zur kontinuierlichen Therapie ermöglichen.

esanumWas sind eventuelle Nachteile der Digital-Health-Anwendungen?

Pförringer: Die Nachteile sind ungleich kleiner. Es geht noch um Unsicherheiten und Risiken. Bei Stromausfall steht in einer vollständig digitalisierten Praxis vieles still. Eine Papierakte kann man im Gegensatz dazu noch bei Kerzenschein lesen. Doch die allerersten Autos sind ebenfalls mehr als kritisch gesehen worden. Trotzdem setzt heute im Straßenverkehr keiner mehr aufs Pferd.

esanum: Was stimmt Sie optimistisch für die Digital-Health-Möglichkeiten?

Pförringer: Ich habe mich schon immer für neue Technologien interessiert und ich sehe die Medizin wie wir sie heute leben in technologischer Hinsicht als völlig veraltet an. Das wird so definitiv nicht bleiben. Erinnern Sie sich an den Anfang der mobilen Telefonie. Das war Anfang der Neunziger absolut verpönt. Heute kann man sich ein Leben ohne Handy nicht mehr vorstellen. Auch da mussten Resistenzen überwunden werden. Es gibt immer early adopters und im Kontrast dazu die late movers – sowie ein großes Mittelfeld dazwischen. Die early movers erleben am Anfang noch gewisse Kosten und Fehlerquellen der neuen Technik, aber mit Zunahme der Akzeptanz sinken die Kosten und die Zuverlässigkeit steigt. Und irgendwann schließen sich alle anderen der Entwicklung an.

esanum: Was sind jetzt reale Chancen, die nächsten Schritte?

Pförringer: Die Reduktion des Dokumentationszeitaufwandes wird sehr schnell kommen, ebenso wie die Analyse von großen Datenpools. Wenn ich einer Maschine Daten zur Verfügung stelle - Röntgenbilder, Utraschallbilder, MRT, CT und so weiter - dann kann die Maschine daraus schnell lernen und Muster schneller erkennen als es das menschliche Auge kann. Die Entwicklung kann dann durch deep-learning-Prozesse zu Artificial Intelligence fortentwickelt werden. Genauso läuft es bei gewissen Laborwertkonstellationen. Doch es ist noch viel zu wenig Budget da, um alle lösbaren Themen umzusetzen. Das würde in jeder Klinik einige Millionen kosten.

esanum: Woher könnte das Geld kommen?

Pförringer: Wenn die Technologie organisch wächst, kann sie durch den selbst geschaffenen Mehrwert selbst bezahlt werden. Das muss man sich so vorstellen: die Daten gehören den Patienten, den Kliniken gehören die Behandlungsdaten und die Technologieträger hegen ein hohes Interesse, mit diesen Daten zu arbeiten. Das heißt, das Gesundheitssystem kann den Besitz der anonymisierten Daten in Form von Forschungsgeldern monetarisieren – um dadurch die Innovationen selbst bezahlen zu können. Daten sind mitunter der größte Reichtum einer Klinik. So wird aus dem Ganzen ein System, das sich selbst füttert – und das somit der Forschung und dem Wohl der Patienten zugute kommt.

Wichtig ist für jede größere Institution ein solide medizinisch sowie betriebswirtschaftlich ausgebildeter und auf dem digitalen Sektor erfahrener CDO – Chief Digital Officer.