Dopingmittel: wenn wissenschaftliche Beweise fehlen

Der Sportarzt Dr. Jean-Pierre de Mondenard mag keine Betrüger – trotzdem sollten Dopingvorwürfe seiner Ansicht nach immer fair geprüft werden.

Anti-Doping-Behörden: "sauberer" Sport um jeden Preis?

Take away:

Dr. Jean-Pierre de Mondenard: Doping-Vorwürfe fair prüfen

Der Sportarzt Dr. Jean-Pierre de Mondenard hat am Nationalen Institut des Sports, der Expertise und der Leistung (INSEP) praktiziert und die meisten großen Radsportereignisse ärztlich verfolgt, darunter drei Tours de France. Er war auch der Arzt der französischen Judo-Mannschaft. Obwohl Dr. de Mondenard keine Betrüger mag, kommt er Zelimkhan Khadjiev zu Hilfe, einem französischen Ringer, der 2019 wegen der Einnahme von Vastarel® sanktioniert wurde.

Der Arzt prangert eine Reihe von Fehlern an, für die er den Athleten nicht in der Verantwortung sieht. Dr. de Mondenard wundert sich zum Beispiel, warum Vastarel® auf der Roten Liste der Welt-Anti-Doping-Agentur steht und was die wissenschaftliche Grundlage hierfür ist. Eines ist sicher: Khadjievs sportliche Zukunft wird vor Gericht entschieden und die Tatsache, dass seine Disziplin in den Medien wenig Beachtung findet, wird ihm nicht helfen. Riskieren die Anti-Doping-Behörden, einen Unschuldigen zu verurteilen, wenn sie um jeden Preis das Image eines "sauberen" Sports vermitteln wollen?

Im Gespräch mit dem französischen Sportarzt Dr. Jean-Pierre de Mondenard

esanum: Herr Doktor de Mondenard, Sie verteidigen einen wegen Dopings sanktionierten Athleten. Warum?

de Mondenard: Seit über 50 Jahren bin ich ein entschiedener Doping-Gegner. Ich war einer der ersten Ärzte, der bei Radsportwettkämpfen Tests durchführte. Ich habe kein Verständnis für Dopingsünder. Ich akzeptiere jedoch nicht, dass ein Athlet ohne Grund bestraft werden soll.

Doping ist eine komplexes Thema mit vielen Interessenkonflikten, aber ich interessiere mich nur für die wissenschaftliche Dimension des Dopings. Es scheint immer eine gute Sache zu sein, einen gedopten Sportler zu stoppen, aber das muss wissenschaftlich gerechtfertigt sein. Bevor ich auf den Fall Khadjiev zu sprechen komme, möchte ich auf ein Beispiel für die Fehler im Kampf gegen Doping zu sprechen kommen.

1988 wurde der 18-jährige französische Junioren-Radsportmeister Cyril Sabatier positiv auf Testosteron getestet. Er schwor, er sei unschuldig, und ich habe endlich begriffen, dass er Recht hatte. Um Testosteron zu quantifizieren, wurde damals das Verhältnis zwischen Testosteron- und Epitestosteron-Dosierungen ermittelt. Das Verhältnis liegt  normalerweise zwischen 1 und einem Maximum von 6, so dass Fachleute aus der Biologie sagten: "Über 6 ist Doping". Cyril Sabatiers Wert lag bei 8,1.

Damals wollte ich zunächst die Urinanalyse wiederholen. Seltsamerweise war die Flasche zerbrochen, also ging ich zu einem privaten Hormonlabor. Zu diesem Anlass wurde an rund 20 Spitzensportlern, ebenfalls im Alter von 18 Jahren, einen 24-stündigen Urintest durchgeführt. Die Schlussfolgerung: In diesem Alter kann Testosteron hoch und Epitestosteron niedrig sein, was den Bericht verzerrt. Es dauerte Jahre, bis das IOC diesen physiologischen Aspekt berücksichtigte. Julien Bonétat, französischer Squash-Meister, wurde aus dem gleichen Grund sanktioniert und Jahre später rehabilitiert.

Tatsächlich überschritten sowohl Sabatier als auch Bonétat natürlich die Schwelle von 6, während Athleten mit einem natürlichen Testosteron/Epitestosteron-Verhältnis von 1 sich bis zur Schwelle von 6 dopen konnten, ohne bei der Dopingkontrolle erwischt zu werden. Die derzeitige Methode zur Messung von exogenem und endogenem Testosteron stammt aus dem Jahr 1993. Sie brachte 2006 den Radfahrer Floyd Landis zu Fall. Sabatier und Bonétat waren unschuldig. Wenn mir im Fall von Zelimkhan Khadjiev jemand beweisen kann, dass die Substanz, die er eingenommen hat, seine Leistung verbessert hat, höre ich auf der Stelle auf, ihn zu verteidigen.

esanum: Was geschah im Fall Zelimkhan Khadjiev?

de Mondenard: Khadjiev ist ein französischer Meister im Freistil-Ringen. Zweimaliger Medaillengewinner bei den Europameisterschaften, nahm er an den Olympischen Spielen 2016 teil. Seine Bronzemedaille bei den Weltmeisterschaften 2019 wurde ihm wegen dieses Falls aberkannt.

Anfang September 2019 litt er aufgrund intensiven und wiederholten Trainings in der Vorbereitung auf die Weltmeisterschaften an Beinschmerzen. Auf Anraten eines Trainers ging er in eine Apotheke, um Vastarel® (Trimetazidin) zu erhalten. Khadjiev trainiert am INSEP im Bois de Vincennes. Er begab sich deshalb in die nächste Apotheke, in die alle INSEP-Athleten gehen. Die Folgen der danach gemachten Fehler sind erschütternd.

Zunächst stimmte der Apotheker zu, Trimetazidin rezeptfrei auszugeben, obwohl seit 2017 eine Verschreibung durch einen Kardiologen erforderlich ist. Dann überprüfte er in VIDAL und auf dem Faltblatt im Päckchen, ob die Worte "Warnung an Athleten" enthalten sind. Es war nichts aufzufinden. Allerdings steht Trimetazidin seit 2014 auf der "Roten Liste" der Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA), was die Nationale Agentur für Arzneimittelsicherheit in der Zusammenfassung der Produktmerkmale hätte widerspiegeln müssen. Dies war der zweite Fehler.

Trimetazidin hingegen tauchte zu Anfangszeiten von VIDAL in der Liste der Dopingmittel auf. Aber 2019 war diese Liste zum ersten Mal nicht mehr Teil des Beipackzettels; der Apotheker hätte sich auf Vidal.fr informieren müssen, tat es aber nicht. Daraufhin wurde Khadjiev für vier Jahre von allen Wettkämpfen suspendiert und die französische Anti-Doping-Agentur (AFLD) verbot ihm sogar, mit anderen Ringern seines Niveaus am INSEP zu trainieren. All das für eine Substanz, die die Leistung nicht verbessert.

esanum: Warum steht Trimetazidin auf dieser roten Liste?

de Mondenard: Das wüsste ich auch gern. Ich habe die WADA gefragt, die diese Liste herausgibt, aber  keine Antwort erhalten. Es gibt keine Studien, die zeigen, dass diese Substanz irgendeine Dopingwirkung hat. Als Khadjiev im Juli 2020 vor die Disziplinarkammer des Internationalen Ringerverbandes trat - die seinen Ausschluss entschied - forderte sein Anwalt die WADA auf, einen wissenschaftlichen Beweis für den Dopingeffekt von Trimetazidin zu erbringen. Die WADA stellte eine polnische Studie aus dem Jahr 2014 zur Verfügung, die zeigt, dass die Substanz im Urin von Volleyballspielern gefunden werden könnte. Dies beweist die Wirksamkeit des fraglichen Labors, keinesfalls, dass Trimetazidin die Leistung verbessert.

Die einzige andere verfügbare Studie beinhaltet die Ergebnisse von Tests, die während der Olympischen Winterspiele 2014 in Sotschi durchgeführt wurden: In 2.134 Urin- und 479 Bluttests wurde Trimetazidin nur einmal gefunden. Ich weise darauf hin, dass Trimetazidin auch nicht die Dopingwirkung einer anderen Substanz überdeckt; in diesem Fall würde es in einem bestimmten Absatz der Liste illegaler Produkte erscheinen.

Der Welt-Anti-Doping-Code hat drei Kriterien festgelegt, nach denen ein Produkt auf dieser Roten Liste stehen muss. Es muss sich um ein leistungssteigerndes Produkt handeln, wofür es in diesem Fall keine Beweise gibt. Es muss ein tatsächliches oder potenzielles Gesundheitsrisiko darstellen, was bei jedem Medikament der Fall ist. Schließlich muss es "unsportlich" sein, d.h. mit der Absicht, die Ergebnisse zu verbessern. Auch ein Placebo kann dieses letzte Kriterium erfüllen. Diese drei Bedingungen werfen Fragen auf.

Als es 2014 auf die Rote Liste gesetzt wurde, erklärte die WADA, dass Trimetazidin eine der "neuen Dopingmodalitäten" sei. Wir sprechen von einer Substanz, die seit 1964 auf dem Markt ist. Wenn eine Substanz, die zwar zugelassen, aber von ihren therapeutischen Indikationen abgezweigt wurde, von Sportlern in größerem Umfang verwendet zu werden scheint, kann die WADA sie in der Tat "unter Überwachung" stellen. Zum Beispiel, wenn die Substanz im Rahmen von Tests immer öfter nachgewiesen wird. Dies ist oft der erste Schritt, bevor es auf die Rote Liste gesetzt wird. Trimetazidin wurde nie unter Überwachung gestellt.

Im Jahr 2014 wurde Trimetazidin erstmals als "spezifiziertes Stimulans" eingestuft und daher nur im Wettbewerb verboten. Im Falle einer Dopingkontrolle könnte die Sanktion herabgesetzt oder sogar aufgehoben werden, wenn der betreffende Athlet nachweist, dass er das Mittel nicht zur Verbesserung seiner Leistung zu sich genommen hat. Aber im Jahr 2015 wurde Trimetazidin ohne unterstützende wissenschaftliche Studien in die Kategorie der "nicht spezifizierten Stoffwechsel- und Hormonmodulatoren" umklassifiziert, weil es angeblich eine Wirkung auf den Herzstoffwechsel hat. Infolgedessen ist es nun auch ausserhalb des Wettbewerbs verboten. Beim ersten Vergehen wird der Athlet für vier Jahre gesperrt.

Warum diese Einstufung auf der Roten Liste im Jahr 2014 und dieser Wechsel der Kategorie im Jahr 2015? Das ist mir ein Rätsel. Es ist unklar und in Ermangelung einer Erklärung können wir nur die Hypothese aufstellen, dass Trimetazidin wegen seiner Ähnlichkeit mit einer anderen Substanz verboten wurde, ohne dass es wissenschaftliche Arbeiten gibt, die diese Änderung der Kategorie bestätigen.

Ich bin nicht der Einzige, der das Vorhandensein von Trimetazidin auf der Roten Liste in Frage stellt. Pascal Kintz ist Professor für Toxikologie an der Universität Straßburg. Er ist ein führender Experte und Rechtsexperte am Cour de Cassation. Im Leitartikel 3 der neuesten Zeitschrift Toxicologie analytique et Clinique berichtet er über den Wirkungsmechanismus von Trimetazidin, der "noch nicht vollständig bekannt" ist, und weist sogar auf Sportler einschränkende Nebenwirkungen hin: Blutdruckabfall und Parkinson-artige Auswirkungen. Professor Kintz schreibt sogar: "Es erscheint illusorisch, ein Interesse an der Leistungsverbesserung mit Trimetazidin finden zu wollen".

esanum: Vier Jahre Suspendierung, die Strafe ist schwer. Sitzen alle Sportlerinnen und Sportler im selben Boot?

de Mondenard: Theoretisch, ja. Tatsächlich wird aber alles vor den Kommissionen der internationalen Verbände oder im Falle einer Berufung vor dem Court of Arbitration for Sport (CAS) entschieden. Ein Sportler wie Khadjiev hat nicht die gleichen Chancen wie beispielsweise ein Christopher Froome. Khadjiev praktiziert eine Sportart, über die in den Medien wenig berichtet wird. Er wird von dem Anwalt eines nationalen Verbandes verteidigt. Froome, der 2017 des Dopings mit Salbutamol verdächtigt wurde, wurde von den Anwälten seines Sky-Teams und dessen Sponsoren verteidigt. Andernfalls wären dem Radfahrer die Siege bei der Spanien-Rundfahrt 2017 und der Italien-Rundfahrt 2018 aberkannt worden.

Dem Team Sky gelang es, den Internationalen Radsportverband (UCI) und die WADA bei den ersten Anhörungen vor der Anti-Doping-Kommission in die Enge zu treiben. Ihre Anwälte sagten einfach: "Zeigen Sie uns die Studie, die beweist, dass Froome nach drei Wochen Rennsport und 200 km Radfahren pro Tag die Schwelle natürlich nicht überschreiten kann". Dieser Grenzwert lag bei 1.000 ng/ml, Froome bei bis zu 2.000. Die WADA veröffentlichte eine 20 Jahre alte Studie über Schwimmer, die überhaupt nicht vergleichbar war. Froome wurde freigesprochen.

Als der Fall Froome aufkam, war das ein riesiger Skandal. Ich wusste, dass der zu berücksichtigende Faktor seine Urindichte war. Ein Faktor, der alles verändert. Ich hatte einige Jahre zuvor den Radfahrer Éric Berthou verteidigt, der mit einem Salbutamolspiegel von 1.879 ng/ml getestet wurde. Er war auch von Anschuldigungen freigesprochen worden, weil ich erklärt hatte, dass man bei sehr heißem Wetter, wenn man fünf Stunden lang radelt, dehydriert ist, so dass die Konzentration im Urin steigt. Ich sage nicht, dass Froome keine Drogen genommen hat. Ich will damit sagen, dass er den WADA-Grenzwert für Salbutamol natürlich überschritten haben könnte.

Für Khadjiev halte ich die Strafe ohne Beweise für Doping für viel zu hart. Vor allem, wenn man sieht, dass der 400-Meter-Weltmeisterin Salwa Eid Naser aus dem Königreich Bahrain soeben vom Internationalen Leichtathletikverband freigesprochen wurde. Dennoch hat sie vier Dopingtests nicht bestanden, was es als höchst wahrscheinlich erscheinen lässt, dass sie auf anabolen Steroiden war. Die Abteilung für Integrität in der Leichtathletik gab am 12. November bekannt, dass sie das Schiedsgericht für Sport anrufen werde.

esanum: Welche Zukunft hat Zelimkhan Khadjiev?

de Mondenard: Das wird alles in Lausanne, beim CAS, entschieden, da sein Anwalt gegen die Entscheidung des Internationalen Ringkämpferverbandes Berufung eingelegt hat. Er hat um einen öffentlichen Prozess gebeten und darum, dass die WADA kommt und sich erklärt. Die WADA lehnt dies vorerst ab. Die Anhörung wird nicht vor 2021 stattfinden, was ungewöhnlich lange dauert. Ich habe das Gefühl, dass die WADA Schwierigkeiten hat, um die Ränder herumzukommen.

Ich glaube, wenn der Kampf gegen Doping in der Schwebe ist, dann ist das eine Sackgasse. Auch wenn es bedeutet, Unschuldige zu bestrafen. Es gibt auch Themen, die weit über die Geschichte dieses Ringkämpfers hinausgehen, aber er könnte indirekt den Preis dafür bezahlen. Die Welt der Dopingbekämpfung ist klein, aber die Interessen sind riesig. Der kanadische Richter, der Khadjiev bei der Anhörung des internationalen Verbandes verurteilt hat, ist auch Anwalt einiger anderer Athleten und praktizierte vier Jahre lang bei der WADA.

Darüber hinaus steht die WADA seit 2018 im Wettbewerb mit einer neuen Agentur, der International Testing Agency (ITA), die vom Internationalen Olympischen Komitee unterstützt wird. Innerhalb von zwei Jahren ist es der ITA gelungen, die offizielle Anti-Doping-Agentur für 45 internationale Verbände, darunter den Ringkämpferverband, zu werden. Wenn nachgewiesen werden kann, dass die Rote Liste eine Substanz ohne Dopingwirkung enthält, sind die Beschuldigungen durch die WADA anfechtbar. Dies ist Khadijews einzige Hoffnung, freigesprochen zu werden.

Es ist daher die ITA, die den Fall Khadijev neben der WADA, ihrem Rivalen, untersucht. Aber das Ziel dieser Gremien ist dasselbe: so schnell wie möglich Sanktionen zu verhängen, um das Image eines "sauberen" Sports aufrechtzuerhalten. Die Athleten sind ihnen dabei egal.

Die Originalversion des Interviews finden Sie auf unserer französischen Homepage.

Der Artikel wurde am 11.02.2022 aktualisiert.