Empathie gegenüber benachteiligten Menschen nimmt während des Medizinstudiums ab

Migrant:innen, Obdachlose, Patient:innen in sozial schwachen Verhältnissen, Menschen mit psychischen Störungen... Die Einstellung von Ärzt:innen zu sozialen Ungleichheiten im Gesundheitsbereich ist eines der Lieblingsthemen von Dr. Leaune, einem französischen Psychiater und Lehrer an der medizinischen Fakultät.

Einfühlsamkeit aufrecht erhalten

Migrant:innen, Obdachlose, Patient:innen in sozial schwachen Verhältnissen, Menschen mit psychischen Störungen... Die Einstellung von Ärzt:innen zu sozialen Ungleichheiten im Gesundheitsbereich ist eines der Lieblingsthemen von Dr. Leaune, einem französischen Psychiater und Lehrer an der medizinischen Fakultät. Wie können wir Menschen effektiv betreuen, die teilweise nicht einmal ein Zuhause haben, tendenziell weniger gut auf Pflege reagieren und generell weniger dankbar sind?

Dr. Leaune veröffentlichte kürzlich eine Studie1 speziell zu den Gefühlen von Studierenden gegenüber Menschen in sozial schwachen Lebensverhältnissen, die als "benachteiligt" gelten. Untersucht wurde, warum, wie einige Studien zeigen, die medizinische Ausbildung dazu führt, die a priori positiven Einstellungen der Studierenden zu verschlechtern. Ziel war es, pädagogische Mittel ausfindig zu machen, mit denen man diese Entwicklung während des Studiums verhindern kann. Dr. Leaune und seine Kolleg:innen führten eine Meta-Analyse unter 55 Studien aus UK und den USA durch (45/55). 

In diese Studien wurden insgesamt 110.000 Medizinstudierende einbezogen. Die Forschenden beobachteten während des gesamten Studiums und verstärkt nach dem vierten Jahr eine signifikante Abnahme der Einstellung gegenüber benachteiligten Menschen. Hier sind ihre Ergebnisse. 

Alter, Geschlecht, sozialer Hintergrund: was zählt, was nicht?

Studien haben das medizinische Curriculum mit anderen verglichen, z. B. mit dem von Apotheker:innen. Sie zeigen, dass der Rückgang der Empathie gegenüber Menschen in prekären Verhältnissen spezifisch für das Medizinstudium ist. Das Alter der Studierenden oder ihre Reife scheinen keine Rolle zu spielen.

In der Studie war die positivere Einstellung der Medizinstudierenden gegenüber Benachteiligten beim weiblichen Geschlecht signifikant höher. Dies ist wahrscheinlich kulturell bedingt: Mädchen werden immer noch stärker zur "Fürsorge" erzogen, was sie tendenziell eher in Berufe wie Krankenpflege oder Sozialarbeit lenkt. Dass Frauen ein größeres Interesse an sozialer Verantwortung haben, ist angesichts der Feminisierung des Medizinstudiums eine gute Nachricht. Man darf allerdings auch nicht vergessen, dass dies Teil der späteren beruflichen Identität aller Medizinstudierenden sein sollte. 

Der soziale Hintergrund der Studierenden ist ein relevanter Faktor 

We aus einer benachteiligten Gemeinschaft oder einer ethnischen Minderheit stammt, scheint eher prädisponiert zu sein, Empathie für Menschen mit demselben sozialen Hintergrund zu haben. Es gibt jedoch auch privilegierte Studierende, die sich zu Beginn ihres Studiums stark für benachteiligte Bevölkerungsgruppen interessieren.

Dr. Leaune geht es vor allem darum, bei allen Studierenden eine positive Einstellung zu kultivieren und zu verstärken. Wie kann dies umgesetzt werden? Indem Medizinstudierende so früh wie möglich an den Umgang mit sozialer Differenz herangeführt werden. 

Gute Einstellungen vs. schlechte Modelle  

Eine vorgefasste Meinung ist, dass Empathie, wie alle Lebenskompetenzen, während eines Praktikums von selbst kommen würde, und dass es daher nicht sinnvoll sei, sie zu lehren. Es scheint jedoch, dass im Gegenteil, während dieser Praktika, die negative Einstellung einiger Ärzt:innen auf die Studierenden abfärbt. Eine Erklärung für den Rückgang der Empathie ist laut der Studie von Dr. Leaune also in den "Vorbildern" zu finden.

Die Wirkung von Vorbildern ist in der Medizin stärker, weil sie sich aus der konkreten Schwierigkeit speist, Menschen in sozial schwachen Positionen zu helfen. Diese Schwierigkeiten oder auch diese Ohnmacht werden jedoch von den Ärzt:innen verinnerlicht, die sie nicht offen aussprechen können. Es ist einfacher, obdachlose Patient:innen zu stereotypisieren, als einem Studierenden gegenüber zuzugeben, dass man nicht in der Lage oder nicht willens ist, diese zu behandeln.

Ärzt:innen müssen sich mit der Lehre, die sie selbst erhalten haben, und den tatsächlichen Schwierigkeiten bei der Behandlung bestimmter Menschen auseinandersetzen. Diese Fähigkeit zur sozialen Verantwortung geben sie an die Studierenden weiter. Was Dr. Leaune betont, ist, dass die Verantwortung für den Rückgang der Empathie nicht bei bestimmten Personen liegt, sondern bei der medizinischen Ausbildung, die diese Prozesse nicht berücksichtigt.

Ein weiterer Erklärungsansatz für den Rückgang des Einfühlungsvermögens bei Studierenden ist die zunehmende Intensität der Anforderungen und der Zeitdruck während des Medizinstudiums. Eine solche Intensität führt zu fachlichem und emotionalem Burnout, was wiederum das Interesse an sozialer Verantwortung tendenziell vermindert.  

Soziale Verantwortung und Interventionen in der Gemeinde

Die von den Forschenden durchgeführte Meta-Analyse zeigt, dass das effektivste Mittel zur Erhaltung der Empathiefähigkeit die Durchführung von "Community Interventions" ist. Dazu gehört, dass die Studierenden außerhalb des Krankenhauses und so früh wie möglich in Kontakt mit benachteiligten Personengruppen kommen, damit sie diese kennenlernen und Vorurteile abbauen können.

Dieser Ansatz ist in den Vereinigten Staaten üblich, wo das Medizinstudium zusätzlich zu seinen drei traditionellen Säulen - Ausbildung, Forschung und klinische Versorgung - eine Mission der sozialen Verantwortung beinhaltet. Auch in Frankreich wird diese Mission an einigen Fakultäten eingeführt, ist aber oft das Ergebnis der Einzelinitiativen von Lehrenden, die sich dieses Problems bewusst sind.

In Lyon baut Dr. Leaune innerhalb der Fakultät einen Ansatz für soziale Verantwortung im Gesundheitsbereich auf. Die Studierenden können im zweiten Jahr ein Wahlmodul belegen. In diesem Jahr haben sich 25 Studierende 40 Stunden lang freiwillig gemeldet, um Schularbeiten zu unterstützen, Obdachlosen zu helfen, Migrant:innen willkommen zu heißen, ehemalige Häftlinge zu unterstützen usw. Ziel ist es, Menschen nicht nur zu beobachten, sondern aktiv teilzunehmen und ein gemeinschaftliches Projekt rund um die Themen soziale Ungleichheit und prekäre Lebenslagen zu leiten: bewusstseinsbildende Werkzeuge zu erstellen (Podcasts, Poster, Videos, Blogs, etc.) oder an assoziativen Aktionen teilzunehmen. Soziale Verantwortung lernt man nicht durch Powerpoint, sondern durch Erfahrungslernen im Feld, mit Freiwilligen und den Menschen selbst. 

Dieses Programm wird sich über mehrere Jahre erstrecken. Wenn sie in ihrem Studium weiter fortgeschritten sind, können die Studierenden ein Praktikum in einer Klinik oder z.B. bei Médecins du Monde absolvieren. Das Ziel ist, zu sehen, wie sie das Bewusstsein bei anderen wecken und ein kollektives Bewusstsein initiieren können. Dr. Leaune baut außerdem ein gemeinsames Programm mit Madagaskar und der Laval University in Quebec City auf. Hier sollen die Studierenden die Realitäten anderer Gesundheitssysteme kennenlernen und aus dem üblichen Krankenhausumfeld herauskommen.

Quelle:
1. Leaune, E., Rey-Cadilhac, V., Oufker, S. et al.
Medical students attitudes toward and intention to work with the underserved: a systematic review and meta-analysis
BMC Med Educ 21, 129 (2021). https://doi.org/10.1186/s12909-021-02517-

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