"Es ist zu einer Abwertung der kardiologischen Prozeduren gekommen"

Fragen an Prof. Dr. Martin Borggrefe, Präsident des diesjähigen Kardiologen-Kongresses.

Fragen an Prof. Dr. Martin Borggrefe, Direktor der I. Medizinischen Klinik für Kardiologie, Angiologie, Pneumologie, Intensivmedizin, Universitätsklinikum Mannheim, Präsident des DGK-Kongresses.

esanum: Wie geht es den deutschen Herzen derzeit?

Prof. Dr. Martin BorggrefePräsident des DGK-Kongresses

Borggrefe: Es geht ihnen deutlich besser als vor 20 Jahren. Die Sterblichkeit am Myokardinfarkt hat sich halbiert - durch die Einführung von Chest Pain Units, in denen Patienten leitliniengerecht diagnostiziert und behandelt werden. Durch die Diagnostik mittels eines Troponintests können wir Patienten früher herausfiltern, die eine Herzkranzgefäßerkrankung haben - und damit frühzeitig intervenieren.

esanum: Also weitgehende Entwarnung für Herzpatienten?

Borggrefe: Wir haben zwar eine Abnahme der Sterblichkeit am Herzen, insbesondere beim Infarkt, aber die Rate beim plötzlichen Herztod hat sich nicht verändert. Alle drei Minuten stirbt ein Deutscher am plötzlichen Herztod. In Deutschland kommen auf diese Weise etwa 150 000 Menschen pro Jahr um. Das heißt, eine Kleinstadt stirbt – mehr als an Brustkrebs, Lungenkrebs und HIV zusammen genommen.

Das bedeutet, dass in der Gesundheitspolitik und im Bewusstsein der Hausärzte und Kardiologen das Problem des plötzlichen Herztodes stärker wahrgenommen werden muss. In etwa 50 Prozent der Fälle ist der plötzliche Herztod die Erstmanifestation einer Herzerkrankung, in der anderen Hälfte liegen Herzerkrankungen vor. Ziel muss es also sein, Risikopatienten korrekt zu identifizieren.

Wir pflanzen ja heute in Deutschland Kardioverter-Defibrillatoren ein. Und wir wissen, dass in etwa 60 Prozent der Fälle dieser nie benutzt wird, weil er unnötig eingepflanzt wurde. Hier liegen wir in der Risikoidentifizierung schlecht.

esanum: Wie verändern die demografischen Entwicklungen die Anforderungen an die Kardiologie?

Borggrefe: Wir sehen Patienten mit zunehmenden Begleiterkrankungen, viele mit Krebsleiden. Man kann sagen, ein Krebspatient stirbt nicht mehr an seinem Krebsleiden, sondern er verstirbt kardial. Oft sind herztoxische Chemotherapien dafür ursächlich. Das heißt, wir haben in der Kardioonkologie ein ganz neues Feld zu besetzen. Im European Heart Journal wurde kürzlich dieses Thema der Ärzteschaft dringend ans Herz gelegt.

esanum: Was gibt es Neues auf dem Kongress zu berichten? Können Sie Durchbrüche bei kardiovaskulären Erkrankungen vermelden?

Borggrefe: Es stellt sich immer mehr heraus, dass ein Patient in einer akuten Infarktsituation nicht nur von einem Stent im Akutgefäß, sondern auch von gleichzeitigen Aufweitungen weiterer Einengungen in den Gefäßen profitiert. Das stellen wir auf dem Kongress vor.

Bislang befürchtete man bei diesem Vorgehen die Gefahr einer Stent-Thrombose. Außerdem werden Daten zu einem neuen Medikament vorgestellt, das in einer Outcome-Studie an 27 000 Patienten getestet wurde. Alle waren leitliniengerecht an ihrer Feststoffwechselstörung behandelt, sie hatten alle ein Statin. Und wenn der LDL-Wert nicht ausreichend gesenkt werden konnten, haben sie on top Evolocumab bekommen. Dieser neue Wirkstoff hemmt den LDL-Rezeptor.

Die Studie zeigt nun, dass der Wirkstoff nicht nur die Blutfette senkt, sondern auch harte Endpunkte absenkt wie Hospitalität und Mortalität. Des Weiteren zeigen wir, dass man unter den neuen Antikoagulanzien bei Vorhofflimmern sicher eine Kardioversion durchführen kann, also auch unter Fortführung der Therapien Kathetertinterventionen machen kann, ohne dass die Patienten vermehrt bluten.

esanum: Wie gut ist die kardiologische Spitzenmedizin derzeit?

Borggrefe: Wir haben eine sehr gute Versorgungslage. Durch die bessere Bildgebung finden wir immer mehr Grenzbefunde, z. B. Aortenwandhämatome, die auch operativ versorgt werden müssen. Die Situation in der Transplantationsmedizin ist leider traurig, weil auf Grund der Skandale in diesem Bereich in den letzten Jahren die Spenderbereitschaft stark rückläufig ist.

Wir haben jetzt mit knapp 200 Herztransplantationen den niedrigsten Stand erreicht. Deswegen werden vermehrt mechanische Herzunterstützungssysteme eingesetzt. Hier hat sich die Technik weiterentwickelt. Bei Aortendissektionen der Bauchaorta haben wir bessere Stent-Technologien zur Verfügung und können z. B. beim Bauch-Aortenaneurisma auch frühzeitig nichtoperativ und komplikationsärmer helfen, als durch eine offene Operation.

Ungefähr 20 Prozent der Patienten mit Mehrgefäßerkrankungen des Herzens haben eine Aufweitung der Aorta. Hier besteht ein Bedarf, diese Patienten zu screenen. In meiner Klinik machen wir es so, dass jeder Patient mit Mehrgefäßerkrankung eine Ultraschalluntersuchung des Abdomens bekommt und bei entsprechenden Befunden wird dann eine CT- oder MRT-Diagnostik durchgeführt. Aber da die Krankenhausaufenthalte immer kürzer werden, muss das in den poststationären, ambulanten Bereich verlagert werden. Und da besteht ein großer Versorgungsbedarf.

esanum: Stichwort Telemonitoring: ist es im Klinikalltag angekommen?

Borggrefe: Das steckt noch in den Kinderschuhen. Es ist belegt, dass Patienten seltener ins Krankenhaus aufgenommen werden müssen, wenn sie telemedizinisch überwacht werden. Häufig wird das gemacht bei Patienten mit implantierten Kardioverter-Defibrillatoren gemacht. Hierfür gibt es eine kleine Kostenerstattung. Bei anderen ähnlichen Einsetzen gibt es im Gesundheitssystem kein Reimbursement.

Hier tut sich eine Lücke auf. Erschwerend ist, das die Verantwortlichkeit des Arztes bei der Übermittlung von Daten in der Nacht ungeklärt bleibt. Das verzögert die Umsetzung der technischen Möglichkeiten in die Praxis. Offen ist auch die Frage: je mehr man sieht, desto mehr findet man und es ist nicht ausreichend geklärt, ob ein häufiges ärztliches Einschreiten immer gut ist für den Patienten.

esanum: Bildgebende Verfahren – eine Erfolgsgeschichte auch in der Kardiologie?

Borggrefe: Da man mittels CT eine Angiographie der Herzkranzgefäße vornehmen kann, werden zum Beispiel unnötige Herzkatheter-Untersuchungen vermieden. Und in der Akutdiagnostik ist die Bildgebung ein Segen. Wenn wir einen Patienten mit Brustschmerz sehen, kann er ja drei Dinge haben: Infarkt, Aortendisseketion oder Lungenembolie. Mittels der Triple-rule-out-Technik kann man das sofort unterscheiden.

Diese schnellere Diagnostik kann auch die Prognose verbessern. Wir sind auch weiter gekommen, mittels MRT zur Risikostratifizierung der Herzpatienten beizutragen. Einfach gesagt: Je mehr Fibrose im Herzmuskel ist, desto ungünstiger die Prognose. Das hilft bei der Auswahl derer, die einen prophylaktischen Defibrillator erhalten.

Auch die Inhomogenität der Narbe kann eine prognostische Relevanz haben. Und nicht zuletzt hilft die Bildgebung sehr bei der Planung von Prozeduren. Und die 3D-Echokardiografie setzt sich zunehmen durch. Wir bekommen bessere anatomische Aussagen und können Herzklappenfehler besser quantifizieren.

In letzter Zeit haben wir zudem weniger Aortenklappen eingesetzt. Weil wir im Herzteam – also Kardioanästhesie, Kardiochirurg und Kardiologe – gemeinsam entscheiden, ob zum Beispiel eine Herzklappe mittels Herzkatheter eingesetzt wird und nicht mit einer OP. Früher wurden mit dieser TAVI-Technologie nur diejenigen behandelt, die ein hohes Sterberisiko bei der OP hatten, jetzt profitieren davon mehr Patienten. Und sie haben eine geringere Sterblichkeit und weniger Komplikationen.

esanum: Welche Hauptsorgen treiben die Kardiologen derzeit um?

Borggrefe: Es ist zu einer Abwertung der kardiologischen Prozeduren gekommen. Es gibt weniger Geld für die Implantation eines Herzschrittmachers, eines Defibrillators oder einer PTCA. Es wird zunehmend verlangt, dass Patienten ambulant versorgt werden. Bei uns sitzt der Medizinische Dienst der Krankenkassen im Krankenhaus und prüft einzelne Behandlungstage.

Dann gibt es die Frage, warum haben sie den Patienten nicht am dritten Tag entlassen? Das bedeutet, dass wir noch mehr dokumentieren müssen. Was uns auch umtreibt, ist die Nachwuchsfrage. Das Interesse an der Wissenschaft schwindet. 80 Prozent der Medizinstudenten sind Frauen und es ist so, dass Koronarinterventionen oder Implantationen von Herzschrittmachern überwiegend von Männern gemacht werden – die lieben das. Frauen finden wir eher in der Funktionsdiagnostik und Bildgebung. Da tun sich demnächst Lücken auf.

esanum: Gibt es interessante Entwicklungen und Erkenntnisse der interdisziplinären Zusammenarbeit, wie z. B. bei Herz und Diabetes?

Borggrefe: Die Zusammenarbeit von Kardiologen und Diabetologen muss weiter verbessert werden. Hier gibt es Fortschritte. Es gibt einen neuen Wirkstoff – Empagliflozin – der nicht nur den Zucker gut einstellt, sondern auch die kardiovaskuläre Mortalität senkt und sogar den plötzlichen Herztod absenkt. Ein weiterer Aspekt ist das Thema Herz und Niere.

Immer mehr Daten sprechen dafür, dass, wenn die Niere erkrankt ist, auch die kardiale Prognose ungünstiger ist. Hier zeigt sich ein großer Bedarf an enger Zusammenarbeit mit den Nephrologen. Und dann der Aspekt Herz und Hirn: Die Neurologen berichten, dass der Patient nach dem Schlaganfall eher am Herzen verstirbt. Also müssen die Patienten nach dem Schlaganfall kardiologisch abgeklärt werden. Das passiert noch viel zu selten.

esanum: Welche Highlights bietet der Kongress?

Borggrefe: Ich habe ja das Motto gewählt: "Rhythmus des Lebens". Dazu gibt es zehn wissenschaftliche Sitzungen, wo wir über Grundlagenforschung bis zu prognostischen Aspekten diskutieren. Zum Beispiel über den plötzlicher Herztod im Kindesalter  - macht es Sinn, schon bei der Geburt ein EKG abzuleiten? Oder: was darf man bei Herzerkrankungen im Sport machen? Und was ist der Zusammenhang von Dopingmitteln und plötzlichem Herztod? Es wird ein sehr spannender Kongress.

Das Gespräch führte Vera Sandberg.

Vera Sandberg, geboren 1952 in Berlin, absolvierte ihr Journalistik-Studium in Leipzig und war 12 Jahre lang Redakteurin einer Tageszeitung in Ost-Berlin. Im Juni 1989 wurde ihr die Ausreise bewilligt, seit 1990 ist sie Autorin für verschiedene Publikationen, Journalistin für medizinische Themen und hat mehrere Bücher geschrieben, zuletzt “Krebs. Und alles ist anders”. Vera Sandberg ist Mutter von zwei inzwischen erwachsenen Kindern und lebt seit 2000 bei Berlin.