Frankreich: Debatte um Aufhebung der ärztlichen Schweigepflicht bei Partnerschaftsgewalt

2018 starben in Frankreich 107 Frauen durch die Hand ihres Ehepartners oder Expartners. Am 15. November 2019 waren es bereits mehr als 130. Nach Schätzungen1 werden jedes Jahr 220.000 Frauen Opfer häuslicher Gewalt - aber weniger als ein Fünftel von ihnen bringt die Tat zur Anzeige.

Besonders Frauen sind betroffen

2018 starben in Frankreich 107 Frauen durch die Hand ihres Ehepartners oder Expartners. Am 15. November 2019 waren es bereits mehr als 130. Nach Schätzungenwerden jedes Jahr 220.000 Frauen Opfer häuslicher Gewalt - aber weniger als ein Fünftel von ihnen bringt die Tat zur Anzeige. Als Reaktion auf diese Zahlen organisierte die französische Regierung vom 3. September bis 25. November 2019 einen Gipfel der häuslichen Gewalt.

Der französische Premierminister legte anschließend 30 Vorschläge vor, darunter die Option, die ärztliche Schweigepflicht in Fällen partnerschaftlicher Gewalt aufzuheben. Justizministerin Nicole Belloubet sprach sich für diese Maßnahme aus. Sie sagte: "Es ist notwendig, über die ärztliche Schweigepflicht hinauszugehen. Die Ethik des Arztes ist hier gefordert: Wenn er sieht, dass eine Frau misshandelt wird, würde es mich schockieren, wenn er es nicht sagen würde!".

Die Infragestellung der ärztlichen Schweigepflicht hat in der Ärzteschaft heftige Reaktionen ausgelöst. Einige befürchten, dass die Aufhebung Frauen davon abhalten werde, über Gewalt zu sprechen. Dem Collège de la Médecine Générale (CMG) erscheint diese Maßnahme nicht nur unnötig, sondern sogar kontraproduktiv, da die ärztliche Schweigepflicht die Vertrauensgrundlage zwischen Patientin und Arzt bilde und damit das Sprechen über Gewalt im Grunde erst ermögliche.

Für die Aufhebung der Schweigepflicht

"Wenn ein Opfer in Gefahr ist, ist es nicht nur meine Pflicht, es zu behandeln", erklärt Dr. Saboye, ein Chirurg. Er beschreibt sein Gefühl, "jemandem in Gefahr nicht helfen zu können", wenn er es mit einem Opfer häuslicher Gewalt zu tun habe. Zwar verstehe er die Zurückhaltung der Hausärzte, denke aber, dass er angesichts der Schwere der Verletzungen von Frauen (Gesichtsfrakturen, Verbrennungen usw.) die Möglichkeit zur Anzeige haben sollte. Wie er sagen viele Ärzte, dass sie in solchen Situationen machtlos seien und bedauern, die Gewalt nicht melden zu können. 

Die Generalinspektion der Justiz stellt in einem Bericht fest, dass "Ärzte und Krankenhausdienste am besten in der Lage sind, die Existenz häuslicher Gewalt zu beobachten". Darin wird eine Änderung des Gesetzes zur ärztlichen Schweigepflicht gefordert, "damit alle Angehörigen medizinischer Berufe die Fakten melden können, auch für den Fall, dass das Opfer dies ablehnt".

Das Gesetz sieht derzeit, außer bei Minderjährigen und Schutzbedürftigen, eine "generelle und absolute" ärztliche Schweigepflicht vor, wenn kein gerichtliches Verfahren anhängig ist oder das Einverständnis der Patientin oder des Patienten vorliegt. "Wir wollen das Gesetz ändern, damit Ärzte, aber auch alle Pflegekräfte, häusliche Gewalt im Falle ernster Gefahr bei den Behörden melden können", begründet Marlene Schiappa (Staatssekretärin für Gleichstellung und Antidiskriminierung) das Anliegen.  

Gegner der Gesetzesänderung halten Vorschlag für kontraproduktiv

Neben der strafrechtlichen Verpflichtung ist die ärztliche Schweigepflicht jedoch auch ein ethischer Imperativ, dessen Nichteinhaltung zum Ausschluss durch die Ärztekammer führen kann. Der hippokratische Eid der Ärzte ist klar: "Ich werde die mir anvertrauten Geheimnisse bewahren."

"Ich habe das Gefühl, dass diese Maßnahme von Menschen vorgeschlagen wurde, die noch nie Opfer häuslicher Gewalt begleitet haben", bedauert Dr. Gilles Lazimi, Allgemeinmediziner, Professor an der Sorbonne-Universität und Aktivist in Frauenhilfe- und Anti-Vergewaltigungs-Verbänden. Seiner Ansicht nach werden die Opfer sich ihrer Ärztin oder ihrem Arzt nicht mehr anvertrauen, wenn sie befürchten müssen, dass gegen ihren Willen Anzeige erstattet wird. "Wir Ärzte sind da, um die Frau zu unterstützen, indem wir ihre Entscheidung akzeptieren und sagen: ‚Ich glaube Ihnen, und ich werde Ihnen helfen.‘ Aber sie ist diejenige, die Anzeige erstatten muss“, betont er.  

Die Aktivistin Fatima Benomar vom feministischen Kollektiv #NousToutes, fügt hinzu: "Es ist schmerzhaft zu sehen, wie sie nach Hause und zu ihren gewalttätigen Ehemännern zurückgehen, aber wir müssen ihre Entscheidung respektieren und dürfen das Vertrauensverhältnis nicht brechen. Die ganze Strategie des gewalttätigen Mannes besteht darin, die Autonomie und das Selbstwertgefühl seiner Frau zu zerstören. Die Aufhebung der ärztlichen Schweigepflicht, die (stellvertrendende) Anzeigenerstattung für Frauen, ist symbolisch gefährlich und bevormundend."

Stattdessen sei es notwendig, die Ausbildung von Betreuern, Polizeibeamten und Richtern zu verbessern und die Zahl der Notunterkünfte für Frauen, die Opfer von Gewalt sind, und ihre Kinder zu erhöhen. Das CMG fordert auch, Ärzten mehr Ressourcen zuzubilligen, um:

Der Nationalrat des Ärztebundes (CNOM) wäre mit einer Anzeige seitens des Arztes oder der Ärztin im Falle häuslicher Gewalt laut Le Monde von 18. Dezember 2019 unter sehr strengen Bedingungen einverstanden, selbst wenn kein Einverständnis des Opfers vorliegt:

Der Präsident des CNOM, M. Bouet, muss diese Vorschläge nun den Autorinnen und Autoren des Gesetzesentwurfs vorlegen.

Referenzen:
1. https://www.lemonde.fr/societe/article/2019/12/11/violences-conjugales-la-derogation-au-secret-medical-divise-les-professionnels-de-sante_6022407_3224.html, zuletzt am 19.12.2019
2. https://www.lemonde.fr/societe/article/2019/12/18/violences-conjugales-le-feu-vert-sous-conditions-de-l-ordre-des-medecins-a-la-levee-du-secret-medical_6023242_3224.html, zuletzt am 19.12.2019

Aus dem Französischen von Ester Zakirova