Gesundheitspolitik in Singapur: Wissenschaft vs. Ideologien

Wissenschaftsbasierte Ansätze der Regierung in Singapur kollidieren mit Ideologien des öffentlichen Gesundheitssystems. Politiker nennen es den “Diabetes-Krieg”.

Wissenschaftsbasierte Ansätze der Regierung in Singapur kollidieren mit Ideologien des öffentlichen Gesundheitssystems.

Politiker nennen es den “Diabetes-Krieg”. Einer von fünf Singapurern soll bis 2050 an Diabetes erkrankt sein (das sind in etwa eine Million Menschen)  – und so reagierte die Regierung von Singapur in diesem Jahr mit willkommener Dringlichkeit. Es ist gut nachzuvollziehen, warum. Aktuell kostet Diabetes Singapur eine Milliarde SG-$. Bis 2050 werden daraus vermutlich 2,5 Milliarden SG-$. Schmerzhafte Versäumnisse in der Vergangenheit – genannt seien der “Krieg gegen Krebs” und der “Krieg gegen Drogen” – haben die Köpfe des Gesundheitssystems in Singapur nicht abgeschreckt. Sie fürchten eine untragbare Zukunft. Amy Khor, erfahrene Ministerin mit Gesundheits- und Umweltthemen im Portfolio, spricht von zwei Bedrohungen für Singapurs Zukunft – neu aufkommende Infektionen (so zum Beispiel das Zika-Virus) und nicht übertragbare Krankheiten. Eine Adipositas-Welle scheint nicht aufzuhalten zu sein. Die Regierung fokussiert sich auf drei Strategien. Erstens müssen Übergewicht und Adipositas bei jungen Erwachsenen verstanden werden. Die Adipositas-Raten sind in den vergangenen 20 Jahren unter jungen Männern auf das Vierfache (auf 20 Prozent) angestiegen und unter jungen Frauen auf das Doppelte (auf elf Prozent). Zweitens muss die Gesundheit am Arbeitsplatz gefördert werden. Die Singapurer nennen ihren Plan TWSH—Total Workplace Safety and Health – und sie nehmen den Plan wesentlich ernster als die meisten Länder das Thema Betriebsgesundheit. Und drittens sollen Verhaltensweisen bezüglich des Lebensstils bei Vorschulkindern untersucht werden sowie die Mechanismen, die sich im Jugend- und Erwachsenenalter manifestieren. Diese Strategie scheint vernünftig und wissenschaftsbasiert. Aber sie wird inmitten scharf untereinander konkurrierender Ideologien des öffentlichen Gesundheitssystems geformt: Was öffentliche Gesundheit ist, was nicht dazu gehört und was es in diesem Bereich noch zu tun gibt.

“Menschen sterben nicht rechtzeitig”

Obwohl die öffentliche Gesundheit seit langem ein Teil von Singapurs relativ junger Nationalhistorie ist, ist ihre formale Organisation neu und zerbrechlich. In Singapur gibt es eine Schule für öffentliche Gesundheit, die vor fünf Jahren dank einer großzügigen Spende des aus Singapur stammenden Philanthropen Saw Swee Hock ins Leben gerufen wurde. Alle vier Jahre gibt es eine Zusammenkunft von Wissenschaftlern und Ärzten aus der öffentlichen Gesundheit, um über die Gesundheit des Landes Bilanz zu ziehen. Die Einführungsversammlung fand 2012 statt. Wenn diejenigen, die sich für die Zukunft eines Landes verantwortlich sehen, das Gefühl haben, ihre Nation sei in Gefahr, so wie es den Obersten in Singapur ergeht, dann laden sie manchmal Experten ein, die ihnen mit Ratschlägen zur Seite stehen sollen. Zwei solcher Experten, Richard Coker (Leiter der London School of Hygiene & Tropical Medicine’s Communicable Diseases Policy Research Group) und Sarah Harper (Leiterin des Oxford Institute of Population Aging), erteilten auf der zweiten internationalen Konferenz zur öffentlichen Gesundheit, die vergangenen Monat abgehalten wurde, ihre Ratschläge. Ihre Aussagen waren erstaunlich gegensätzlich. Sarah Harper betrachtet öffentliche Gesundheit durch die Brille demographischer Übergänge. Lebenserwartungen steigen (oder anders gesagt, “Menschen sterben nicht rechtzeitig”); Familien haben weniger Kinder; Gesellschaften bestehen aus immer größer werdenden Anteilen alter Menschen und kleiner werdenden Gruppen Wohlstand-generierender Arbeitskräfte. Es hat Europa 150 Jahre gekostet, durch diese Transition hindurchzugehen. In Asien passiert das innerhalb einer Generation. Was also sollte das Ziel öffentlicher Gesundheit sein? “Das Ziel öffentlicher Gesundheit”, erklärte Harper, “ist es, Leuten dabei zu helfen, mehr Verantwortung für ihre Gesundheit zu übernehmen.”

Finanzielle Unterstützung muss auch von Nationen erfolgen, die nicht von Ebola betroffen sind

Richard Coker präsentierte eine ganz andere Vision. Globalisierung, Ungleichheit, Migration und ökologische Shifts – das seien die Herausforderungen, mit denen sich öffentliche Gesundheit heute konfrontiert sieht. Ein einzelner Bürger allein kann diese gesellschaftlichen Kräfte nicht bewältigen. Das können nur Regierungen. Es ist an den Politikern, es mit den gegensätzlichen Zugkräften aufzunehmen, die Gesundheit zu gestalten. Xenophobie, Rassismus, Stigmata, Diskriminierungen, sozialer Ausschluss, Armut, Vertrauensverlust und zerstörte Wohnräume. Öffentliche Gesundheit muss politisch sein. Sowohl zu Hause als auch Übersee. Coker lenkte die Aufmerksamkeit auf die finanzielle Unterstützung von Nationen, die nicht von Ebola betroffen waren – sogar kleine Nationen wie Norwegen – um sicherzustellen, dass künftige Epidemien rechtzeitig entdeckt und robust anvisiert würden. Jede Nation hat ihren Anteil an der Sicherheit öffentlicher Gesundheit. Singapur sollte Teil dieses internationalen Engagements sein. Das ist derzeit nicht der Fall. Was also soll ein aus Singapur stammender Politiker aus den widerstreitenden Ideologien der öffentlichen Gesundheit machen? Ist eine Politik der individuellen Verantwortung zu bevorzugen (im Kontext einer alternden Gesellschaft)? Oder sollte es der Regierung auferlegt werden, die öffentliche Gesundheit zu einer höheren Priorität zu machen (und Singapurs Bürger gegen das Zika-Virus zu schützen)? Diese Wahl wurde vergangenen Monat in Singapur nicht getroffen. Aber mit sich allmählich akkumulierenden Gesundheitsrisiken, die nicht nur die Wirtschaft des Landes bedrohen, sondern auch seine Existenz, sollte Singapurs berühmte Effizienz in Sachen Gesundheitsausgaben möglicherweise neu bewertet werden. Diese unangenehme Lektion erfährt auf der ganzen Welt einen intensiven Wiederhall.