Gute Daten, schlechte Daten

Telemedizin, Big Data und Algorithmen der künstlichen Intelligenz revolutionieren die Neurologie. Bevor PatientInnen tatsächlich von modernen Technologien profitieren, sind einige Hürden zu überwinden: Derzeit fehlen Standards, und viele Anwendungen sind speziell für Niedergelassene zu zeitaufwändig.

Digitalisierungsstrategien in der Neurologie

Telemedizin, Big Data und Algorithmen der künstlichen Intelligenz revolutionieren die Neurologie. Bevor PatientInnen tatsächlich von modernen Technologien profitieren, sind einige Hürden zu überwinden: Derzeit fehlen Standards, und viele Anwendungen sind speziell für Niedergelassene zu zeitaufwändig. 

Digitalisierung zwischen Chancen und Risiken – für NeurologInnen sind moderne Technologien derzeit ein kontroverses Thema. "Entwicklungen werden stark von der Industrie forciert, und Ärzte werden mitunter vor den Karren von Herstellern gespannt", warnt Prof. Dr. Gereon Nelles vom NeuroMed Campus, Köln. Er nennt einige Fragen der aktuellen Diskussion: "Verbessert sich die Versorgungsqualität tatsächlich? Schaffen wir mehr Nähe – oder mehr Distanz? Und sparen wir Zeit und Geld?"

Fehlende Standards bei der MS-Diagnostik

Prof. Dr. Björn Tackenberg vom Universitätsklinikum Marburg sieht mittelfristig große Chancen, PatientInnen mit komplexen Erkrankungen wie multipler Sklerose (MS) besser zu versorgen. "Aktuell stehen wir vor der Schwierigkeit, dass uns Standards zur Datenerhebung und -auswertung fehlen", sagt der Experte.

Als Beispiel nennt er die vermeintlich einfache Frage, wie viele MRT-Untersuchungen bei MS sinnvoll sind. Magnims, ein europäisches Netzwerk, rät zu Aufnahmen im Rahmen der Baseline-Diagnostik und später mindestens einmal pro Jahr, bei Schüben häufiger. Vom Consortium of Multiple Sclerosis Centers (CMSC) heißt es, Erkrankte vor Therapiebeginn, sechs Monate später und während der fortlaufenden Behandlung alle ein bis zwei Jahre zum MRT zu schicken. Und das European Committee for Treatment and Research in Multiple Sclerosis (ECTRIMS) empfiehlt eine Untersuchung vor Therapiebeginn, dann nach sechs und zwölf Monaten, bei Bedarf häufiger.

An der Interpretation scheiden sich ebenfalls die Geister. Befragungen aus elf europäischen Ländern zufolge interpretieren NeurologInnen T2-Läsionen im MRT ganz unterschiedlich. 89% würden ihre Therapie aufgrund des Befunds umstellen, wobei sie größtenteils bei 3 bis 4 Auffälligkeiten aktiv werden.

Daten bei jedem Arztbesuch systematisch erfassen

Ein möglicher Ausweg: Mit der Medizininformatik-Initiative DIFUTURE fördert die Bundesregierung ein Projekt, um Standards der Bildgebung, der Befundung und der Dokumentation zu entwickeln. Dieser qualitätsgesicherte MS-Kerndatensatz wird in einem Data Warehouse bereitgestellt und eignet sich für retrospektive Analysen, für die Entwicklung neuer Krankheitsmodelle und für prospektive Validierungen.    

Valide Daten kommen nicht nur aus der Bildgebung. Tackenberg zufolge eigne sich die Zeit im Wartezimmer gut, um wichtige Informationen quasi in Echtzeit zu erfassen.

MS PATHS (Multiple Sclerosis Partners Advancing Technology and Health Solutions) von Biogen nutzt neue Technologien, um standardisierte Patientendaten bei Routinebesuchen in der Praxis zu generieren und zu sammeln. PatientInnen beantworten am Tablet-Computer Fragen zur Lebensqualität. Kleine Tests erfassen die Geschicklichkeit, den Visus und das Gangverhalten.

Danach geht es weiter zur Radiologie. Stehen MRTs an, arbeiten die Geräte anhand von standardisierten Protokollen und erfassen automatisch T2-Läsionen bzw. das Gehirnvolumen. Alle Informationen gehen zur Begutachtung in die Neurologie. Von solchen Informationen profitieren nicht nur ÄrztInnen. Die Daten könnten zu neuen Entdeckungen bei MS führen.

Wearables als Patiententagebuch

Als weitere Quelle nennt Tackenberg Daten aus dem Alltag von PatientInnen. Speziell für Menschen mit MS bietet die App Floodlight Open von Genentech viele Möglichkeiten. Menschen mit MS müssen auf ihrem Smartphone verschiedene Aufgaben ausführen oder Fragen beantworten, die eine Beurteilung der körperlichen und kognitiven Funktionen ermöglichen:

Solche Informationen leisten einen Beitrag, um MS besser zu verstehen und um Progressionen rascher zu erkennen. Bereits jetzt zeigen Ergebnisse einer 12-wöchigen Studie, dass sich Floodlight Open als Tool eignet, um Verschlechterungen des Krankheitsbildes zu erkennen. "Langfristig könnte man damit sogar die bekannte EDSS-Skala ersetzen", vermutet Tackenberg.

Technologie muss anwenderfreundlich sein

Doch kommen Innovationen tatsächlich im Versorgungsalltag der PatientInnen an? Dieser Frage ging Nelles anhand eines bereits als Modellprojekt verfügbaren Expertenkonsils nach. HausärztInnen haben die Möglichkeit, NeurologInnen per Telemedizin über sichere Online-Plattformen zu kontaktieren. FachärztInnen können eine Diagnose stellen, einen Termin vor Ort empfehlen oder die stationäre Einweisung anraten. Fehlen wichtige Daten, wird dies ebenfalls an die zuständige Hausarztpraxis übermittelt. Dann folgen weitere Untersuchungen.

"Allerdings zeigten Hausärzte bislang kein großes Interesse, konsiliarische telemedizinische Leistungen in Anspruch zu nehmen", berichtet Nelles. Über die Gründe lasse sich an der Stelle nur spekulieren. Möglicherweise sei der zeitliche Aufwand im niedergelassenen Bereich zu hoch. Man füllt eben schneller eine Überweisung aus, um PatientInnen in die Hochschulambulanz zu schicken. Digitale Lösungen in der Neurologie müssen eben nicht nur mit validen Daten arbeiten, sondern schnell und einfach zu bedienen sein.

Quelle:
92. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Neurologie: Symposium „Innovative digitale Konzepte in der Versorgung von chronischen neurologischen Erkrankungen“, 26.09.2019