Hessener Landärzten droht fünfstellige Rückzahlung wegen zu häufiger Hausbesuche

Weite Wege, keine öffentlichen Verkehrsmittel, viele Alte: Weil viele ihrer Patienten nicht in die Praxis kommen können, machen zwei Hausärzte häufig Hausbesuche.

Zwei betroffene Ärzte kämpfen um Abschaffung von Regressen

Weite Wege, keine öffentlichen Verkehrsmittel, viele Alte: Weil viele ihrer Patienten nicht in die Praxis kommen können, machen zwei Hausärzte häufig Hausbesuche. Das freut die Kranken, stört die Prüfer und macht einen Ort "am Allerwertesten der Welt" bundesweit bekannt.

Gilserberg im nordhessischen Schwalm-Eder-Kreis ist so klein, dass die Telefonnummern dreistellig sind. Unter 371 erreicht man die örtliche Hausarztpraxis - die einzige im Ort. Seit kurzem rufen dort Menschen aus der ganzen Republik an: Kollegen, die ihren Frust loswerden möchten. Journalisten von "Spiegel Online" bis zu den "Tagesthemen", die ein Interview wollen. Nur offizielle Vertreter von Ärzteorganisationen - die haben sich noch nicht gemeldet, seit in der Hochlandpraxis der Bär steppt.

Dass die Landärzte Nils Wagner-Praus (55) und Marei Schoeller (49) plötzlich im Rampenlicht stehen, liegt an einem Facebook-Post. "In eigener Sache" informierten die Fachärzte für Allgemeinmedizin ihre Patienten darüber, dass sie sich vor dem Beschwerdeausschuss der Ärzte und Krankenkassen in Hessen rechtfertigen mussten. Dafür, "dass wir in den Jahren 2012, 2013 und 2014 zu viele Hausbesuche im Vergleich zu anderen Praxen in Hessen gemacht und entsprechend auch abgerechnet haben sollen". Deswegen sollen sie "einen hohen fünfstelligen Betrag zurückzuzahlen".

Durchschnittswerte für ländliche Gebiete nicht realistisch

Schon seit 2015 liegt diese Forderung auf dem Tisch. Seither gab es "viel Geschreibe hin und her", erzählt Wagner-Praus, aber die Summe blieb: alles in allem 58 000 Euro. "Das können wir nicht auf einmal zahlen. Dann sind wir platt", sagt der Mediziner, der im Jahr 2000 in die Landarztpraxis eingestiegen ist. 1000 Einwohner, plus elf verstreute Ortsteile, eine alternde Bevölkerung inklusive Altenheim und Hospiz. Und damit viele Menschen, die nicht in die Praxis kommen können. Fünf, sechs Hausbesuche am Tag sind für Wagner-Praus und Schoeller die Regel, oft sind es mehr.

Zu viel, sagt die Prüfstelle, die kontrolliert, dass das, was Ärzte den Krankenkassen in Rechnung stellen, "notwendig und zweckmäßig" ist. Wie viele Hausbesuche - für die es 20 Euro Zuschlag gibt - zulässig sind, hängt von einem hessenweiten Durchschnittswert ab. Und der liegt weit unter dem, was die Hochlandpraxis leistet. Kein Wunder, sagt Wagner-Praus, in Frankfurt fahren die Kollegen selten zu Hausbesuchen raus, "aber wir sind am Allerwertesten der Welt".

Gilserberg liegt sehr ländlich zwischen Marburg und Kassel. Die Bauernhöfe reichen bis an Durchfahrtstraße. Apotheke, Post, Metzger und Bäcker - das war's. Einen Supermarkt gibt es nicht. Zum Einkaufen fahren die Gilserberger nach Gemünden oder Schwalmstadt. So sehen die Folgen des demografischen Wandels aus. Öffentlicher Personennahverkehr (ÖPNV) ist nicht vorhanden. Wer zum Arzt muss und auf kein Auto zurückgreifen kann, ist auf Hausbesuche angewiesen.

Überschreitungen müssen schlüssig erläutert werden

Dass die Prüfungsstelle Rückzahlungen oder Regresse festsetzt, ist vergleichsweise selten. Da die Prüfungen erst im Nachhinein stattfinden, stammen die jüngsten Zahlen aus den Jahren 2013/14. Damals waren von den 12.500 Arztpraxen in Hessen insgesamt 2015 Praxen wegen Überschreitungen aufgefallen. In 286 Fällen wurde ein Verfahren eröffnet, 220 Praxen mussten am Ende zahlen. "Das entspricht 1,76 Prozent der Praxen in Hessen", teilte die Prüfungsstelle mit.

Laut Kassenärztlicher Vereinigung, die zusammen mit den Krankenkassen die Prüfungsstelle betreibt, hat die Hochlandpraxis den Durchschnittswert um 300 Prozent überschritten. Liegt eine Praxis mehr als 100 Prozent über dem Durchschnitt, wird sie gebeten, die hohe Zahl zu erklären. In Gilserberg hätten die Ärzte die vielen Hausbesuche durch "Praxisbesonderheiten" nicht ausreichend erklären können, sagt KV-Sprecher Karl Matthias Roth. Das hätten ein unabhängiger Prüfarzt und drei Mediziner in der Beschwerdestelle so gesehen und daher die Honorarrückzahlung verhängt.

Armin Beck, Vorsitzender des hessischen Hausärzteverbandes, hat durchaus Verständnis für die Prüfungen. "Sie machen das ja zu Lasten der Gesamtvergütung. Es gibt nun mal nicht unendlich viel Geld", sagt der Hausarzt aus Hofheim im Taunus. Jeder Hausarzt dürfe so viele Hausbesuche machen, wie nötig - "wenn sie es begründen können."

Verfahrenstransparenz erhöhen, aber Regresse nicht abschaffen

Die Kritik daran, wie die Prüfungen laufen, teilt er: "Das ist alles sehr intransparent. Mann kann das Verfahren sicher einfacher und durchschaubarer machen." Die Forderung aber, Regresse generell abzuschaffen, findet er "blauäugig". Beck sagt: "Wir unterliegen Regeln, und wenn ich diese Regeln nicht einhalte, schade ich dem Kollektiv."

Die Ärzte in der Hochlandpraxis bekommen unterdessen viel Zuspruch. "Machen Sie weiter so. Es ist schön, dass es noch Ärzte wie Sie gibt", ermuntern Facebook-Freunde die Hausärzte. Oder: "So wird jedenfalls die oft als kläglich bejammerte Versorgung in der Fläche nicht verbessert." In Gilserberg geht es inzwischen um mehr als den eigenen Fall: Wagner-Praus und Schoeller kämpfen dafür, dass Regresse abgeschafft werden. Das große Interesse habe sie "völlig überrascht", sagt Wagner-Praus. "Wir haben ein klein wenig was anderes zu tun. Aber wenn sich am Ende was bewegt, war es das wert."