Je niedriger das Einkommen, desto höher der Antibiotikagebrauch

Von 2007 bis 2017 wurden Kindern in 8 Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen von der Geburt an bis zum Alter von 5 Jahren im Schnitt 25 Mal Antibiotika verschrieben – das ist 5 Mal mehr als in Ländern mit hohem Einkommen, wo die Verschreibungszahlen ohnehin schon hoch ausfallen.

Kinder in Ländern mit niedrigen und mittleren Einkommen erhalten zu viele Antibiotika

Von 2007 bis 2017 wurden Kindern in 8 Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen von der Geburt an bis zum Alter von 5 Jahren im Schnitt 25 Mal Antibiotika verschrieben – das ist 5 Mal mehr als in Ländern mit hohem Einkommen, wo die Verschreibungszahlen ohnehin schon hoch ausfallen. Viele der Medikamente, die ab der Geburt bis zum Alter von 5 Jahren verschrieben werden, sind nicht erforderlich und können Resistenzen verschlimmern. Die Zahl der Antibiotikaverschreibungen für Kleinkinder variiert von 1 pro Jahr für Kinder in Senegal bis zu 12 pro Jahr in Uganda.

Kinder in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen (low and middle-income countries, LMICs) bekommen in den ersten fünf Lebensjahren im Durchschnitt 25 Mal Antibiotika verschrieben. Laut einer neuen Studie des Schweizerischen Tropen- und Public Health-Instituts (Swiss TPH) und der Harvard T.H. Chan School of Public Health könnten diese exzessiven Verschreibungen weltweit Antibiotikaresistenzen verstärken und dazu führen, dass Kinder Krankheitserreger schlechter selbst bekämpfen können.

"Wir wussten, dass Kinder in LMICs häufiger erkranken, und dass in diesen Ländern oft Antibiotika verschrieben werden. Wir wussten jedoch bisher nicht, wie die tatsächliche Antibiotikaeinnahme aussieht. Die Ergebnisse sind besorgniserregend", so Günther Fink, Hauptautor der Studie und Leiter der Einheit Household Economics and Health Systems Research am Swiss TPH.

Globale Gesundheitsgefahr

Die antimikrobielle Resistenz ist heute laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) eine der größten Bedrohungen für die globale Gesundheit und Entwicklung. Einer der Faktoren, der zu dieser globalen Gesundheitsgefahr beiträgt, ist die exzessive Nutzung von Antibiotika weltweit. Bereits aus früheren Studien geht hervor, dass in vielen Ländern Kindern zu oft Antibiotika verschrieben werden. So kam man zum Beispiel in Tansania in mehreren Studien zu dem Ergebnis, dass über 90% der Kinder, die eine Gesundheitseinrichtung aufsuchen, ein Antibiotikum erhalten, obwohl die Behandlung nur in 20% der Fälle tatsächlich notwendig war.

Das Forscherteam des Swiss TPH und der Harvard Chan School wertete für den Zeitraum von 2007 bis 2017 die Daten aus Gesundheitseinrichtungen und Haushaltsbefragungen in acht Ländern aus: Haiti, Kenia, Malawi, Namibia, Nepal, Senegal, Tansania und Uganda. Laut der Studie wurden Kindern bis zum Alter von 5 Jahren im Schnitt fünf Antibiotika pro Jahr verschrieben – eine, wie die AutorInnen festhielten - frappierende Zahl, denn in vielen Hocheinkommensländern gelten bereits zwei Antibiotikaverschreibungen pro Jahr als exzessiv. Es zeigte sich, dass Kindern mit Atemwegserkrankungen in 81% der Fälle Antibiotika verabreicht wurden, bei Kindern mit Durchfall waren es 50%, bei Kindern mit Malaria 28%.

Je nach Land, wurden Kleinkindern unterschiedlich oft Antibiotika verschrieben. In Senegal erhielten Kinder in den ersten fünf Lebensjahren ungefähr einmal pro Jahr ein Antibiotikum, während diese Zahl in Uganda bei bis zu zwölf Mal pro Jahr lag. Zum Vergleich: Einer früheren Studie zufolge wird Kindern unter fünf Jahren in Europa im Schnitt weniger als einmal pro Jahr ein Antibiotikum verschrieben. "Selbst diese Zahl ist immer noch hoch, wenn man bedenkt, dass es sich bei der grossen Mehrheit der Infektionen in dieser Altersgruppe um Virusinfektionen handelt", erklärte Valérie D’Acremont, die die Studie mit verfasst hat und am Swiss TPH die Gruppe "Management of Fevers" leitet.

"Das Besondere an der Studie ist, dass ein sehr viel umfassenderes Bild der Antibiotikaexposition von Kindern in LMICs gezeichnet wird als in bisherigen Berichten. Es wurden sowohl Daten aus Haushaltsbefragungen als auch Daten aus der direkten Beobachtung von Gesundheitsfachkräften verwendet", so Jessica Cohen, Harvard Chan School und Mitautorin der Studie.

Auswirkungen auf die Kinder

"Die übermäßige Verschreibung von Antibiotika stellt nicht nur eine große Bedrohung für die globale Gesundheit dar, sondern kann auch konkrete Auswirkungen auf die Gesundheit der betroffenen Kinder haben", erläuterte Valérie D’Acremont: "Werden Antibiotika zu häufig verwendet, so zerstört das die natürliche Darmflora, welche bei der Bekämpfung von Krankheitserregern und dem Aufbau der Immunabwehr eine zentrale Rolle spielt."

Derzeit läuft ein Forschungsprojekt des Swiss TPH, mit dem die ForscherInnen besser verstehen möchten, welche Folgen die übermäßige Verabreichung von Antibiotika für Kinder hat. "Erkenntnisse zu den konkreten Auswirkungen auf einzelne Kinder sind entscheidend, um politische Änderungen herbeiführen zu können", sagte Fink. Sein Team verglich die Antibiotikapolitik verschiedener Länder, um herauszufinden, wie die Verschreibung von Antibiotika am besten gesenkt werden kann.

Bekämpfung von Resistenzen mit digitalen Mitteln

Die entscheidende Rolle spielen jedoch diejenigen, die im Gesundheitswesen arbeiten. "Ausbildung und Supervision reduzieren die unnötige Verschreibung von Antibiotika am stärksten", so Valérie D’Acremont. Zu diesem Zweck hat ihr Forschungsteam am Swiss TPH und Unisanté in Lausanne das ePOCT (electronic Point-of-Care Tool) entwickelt. Dabei handelt es sich um ein digitales Tool, das Gesundheitsfachkräfte bei der Diagnose und Behandlung erkrankter Kinder unterstützt.

In Gesundheitszentren, in denen ePOCT eingeführt wurde, kam es zu besseren Behandlungsergebnissen, und gleichzeitig konnte die Verschreibung von Antibiotika enorm reduziert werden. Kristina Keitel, wissenschaftliche Projektleiterin am Swiss TPH, stellte in ihrer Studie einen Rückgang der Verschreibungen von 95% auf 11% fest. Das Tool wird derzeit in Zusammenarbeit mit Unisanté, der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (ETHL) und Partnern in Tansania und Ruanda sowie mit Unterstützung der Fondation Botnar und der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) weiterentwickelt und soll in Zukunft auch Algorithmen beinhalten, die auf künstlicher Intelligenz basieren.