Kasuistik: "Therapeutische Trägheit" bringt alten Diabetes-Patienten in Lebensgefahr

Stellen Sie sich vor, ein 88-Jähriger Mann kommt zu Ihnen in die Praxis oder – wie es tatsächlich der Fall war – in die Notfallambulanz, weil er seit vier Tagen an Benommenheit und unsystematischen Schwindelgefühlen ("dizziness") leidet. Der Gleichgewichtssinn ist erhalten, eine Vertigo besteht nicht. Die gleichen Beschwerden hatte der Mann vor drei Jahren während einer hypoglykämischen Episode.

Stellen Sie sich vor, ein 88-Jähriger Mann kommt zu Ihnen in die Praxis oder – wie es tatsächlich der Fall war – in die Notfallambulanz, weil er seit vier Tagen an Benommenheit und unsystematischen Schwindelgefühlen ("dizziness") leidet. Der Gleichgewichtssinn ist erhalten, eine Vertigo besteht nicht. Die gleichen Beschwerden hatte der Mann vor drei Jahren während einer hypoglykämischen Episode.

Der Fall: Diabetes-Patient mit mehrtägiger Benommenheit

Die Krankengeschichte des betagten Patienten beinhaltet Diabetes, Bluthochdruck, chronische Niereninsuffizienz ohne Proteinurie, Dyslipidämie, Vorhofflimmern und Gicht. Bei der körperlichen Untersuchung stellen Sie einen Blutdruck von 160/60 mmHg fest, der unregelmäßig irreguläre Puls beträgt 65/min. Der Patient ist weder hypoxämisch noch febril. Auch sonst erscheint das klinische Bild unauffällig, abgesehen von einem erniedrigten Jugularvenendruck auf Höhe des Brustbeinwinkels.

Auf der Medikationsliste des Patienten stehen Warfarin, Atorvastatin, Acarbose, Metformin, Gliclazid, Valsartan, Perindopril und Indapamid.

Im Laborbefund zeigen sich eine Hyperkaliämie (6,1 mEq/l), ein akutes Nierenversagen (Serumkreatinin 593 µmol/l) und eine Hypoglykämie mit einem Blutzucker-Gehalt von 1,7 mmol/l im Kapillarblut. Der vor einem Monat ermittelte HbA1c-Wert beträgt 7,4%.

Potenziell lebensbedrohliches Szenario: Hyperkaliämie, akutes Nierenversagen und Hypoglykämie

Was würden Sie tun?

Die kanadischen Autoren des gerade im JAMA Internal Medicine erschienenen Fallberichts1 setzten beide RAAS-Hemmer ab und rehydrierten den Patienten intravenös mit einer Dextrose-haltigen Infusionslösung. Die Hypoglykämie verschwand und die Nierenfunktion kehrte auf ihr Ausgangsniveau zurück.

Mit diesem einfachen Behandlungsansatz konnten die Ärzte von der McGill-Universität in Montreal die dreifache Lebensgefahr durch Hyperkaliämie, akutes Nierenversagen und Hypoglykämie umgehend aufheben. Die drei potenziell fatalen Komplikationen sind allesamt der vorherigen Medikation des alten Patienten zuzuschreiben.   

Nicht mehr empfohlen: Kombination von ACE-Hemmer und ARB

Vermutlich ist Ihnen der Medikationsfehler aufgefallen: Die gleichzeitige Verschreibung eines ACE-Hemmers und eines Angiotensin-Rezeptorblockers (ARB), die bei dem geschilderten Patienten seit zwei Jahren erfolgte, wird heute nicht mehr empfohlen. Entgegen früheren Annahmen (die auf den Ergebnissen diverser, teilweise inzwischen zurückgezogener Studienpublikationen basierten), bietet diese Kombination gegenüber einer RAAS-Monotherapie keinen Vorteil für Diabetes-Patienten mit Proteinurie. Stattdessen drohen – wie in diesem Fall – vermehrte Nebenwirkungen u.a. in Form von akutem Nierenversagen und Hyperkaliämie.

Die stark eingeschränkte Nierenfunktion zieht zudem eine verminderte Clearance u.a. von Sulfonylharnstoffen nach sich, was dann – wie hier durch Gliclazid – in eine Unterzuckerung münden kann.

Metformin und Sulfonylharnstoffe bei hohem Alter und Nierenschwäche sinnvoll?

Sind Metformin und Sulfonylharnstoffe als orale antidiabetische Therapie bei einem hochbetagten Patienten mit beeinträchtigter Nierenleistung überhaupt sinnvoll? Die Autoren sehen das nicht so und sprechen, mit Verweis auf geriatrische Expertenempfehlungen, von „potenziell ungeeigneten Medikationen“.

Und wie ist es dann mit der Zielsetzung für den HbA1c-Wert? Die kann bei älteren Patienten auch nach deutscher Leitlinienauffassung legerer gehandhabt werden: "Bei über 70-Jährigen mit Diabetes können auch über 8% liegende HbA1c-Werte toleriert werden, solange es nicht zu diabetesassoziierten Symptomen kommt", heißt es in der Nationalen VersorgungsLeitlinie "Therapie des Typ-2-Diabetes".

Die kanadischen Autoren weisen darauf hin, dass ein individualisierter HbA1c-Zielbereich von 7,5-8,5% in "vulnerablen Populationen" zur Vermeidung einer Übertherapie beitragen kann. Dennoch wird in der therapeutischen Praxis schätzungsweise bei der Hälfte aller älteren Patienten mit komorbiditätsbedingt erhöhtem Hypoglykämie-Risiko eine strenge  glykämische Kontrolle betrieben (HbA1c < 6-7%). 

Was ist sonst an dieser Kasuistik so besonders, dass sie es als „teachable moment“ in das renommierte amerikanische Fachmagazin geschafft hat?

Mit Korrektur der Medikation hätte der Fall vermieden werden können

Bei der Fallaufarbeitung stellten die kanadischen Ärzte fest, dass schon die vorbehandelnden Kollegen den Medikationsfehler bemerkt, aber keine Konsequenzen daraus gezogen hatten. Das kann man sich durchaus vorstellen: Der Blutdruck war ja gut eingestellt und Nebenwirkungen waren bisher keine aufgefallen.

Medizinisch korrekt ist dieses Verhalten natürlich nicht: "Therapeutische Trägheit kommt häufig vor, aufrechterhalten durch den  Glauben, dass die Abwesenheit einer vorherigen Nebenwirkung ihr zukünftiges Auftreten unwahrscheinlich macht", kommentieren die Kasuistik-Autoren. Gekoppelt ist dieser Glaube ihrer Meinung nach mit der Angst vor negativen Folgen als direktem Resultat einer Therapieänderung – ganz nach dem Motto "never change a winning team".

Reduzierung der Medikamentenanzahl auf vier

Hier kommt das Stichwort "Deprescribing" ins Spiel, dass angesichts der gerade im höheren Alter grassierenden Polypharmazie im praktischen Alltag konsequent umgesetzt werden sollte. "Entverordnen" klingt nicht so elegant, aber darum geht es: regelmäßig und strukturiert eine Neubewertung der Patienten-Medikation vornehmen, ggf. die Dosis reduzieren oder Wirkstoffe ganz absetzen, wenn das Nebenwirkungsrisiko den Nutzen vermutlich überwiegt.

Im vorliegenden Fall wurde das gemacht und die Medikation auf ein Ausmaß geschrumpft, dass die Autoren für angemessen hinsichtlich Alter, Komorbiditäten und Nierenfunktion halten. Ergebnis: Der Patient wurde mit einer optimierten und übersichtlichen Kombination von Medikamenten aus dem Krankenhaus entlassen:  Linagliptin, Warfarin, Atorvastatin und Amlodipin.

Aktuelle Expertenbeiträge zu diesem Thema lesen Sie jede Woche neu im esanum Diabetes Blog.

Referenz: (1) Rasian IA et al. Missed Opportunities for Deprescription. JAMA Intern Med 2017;177:1028-9.

Abkürzungen:

RAAS = Renin-Angiotensin-Aldosteron-System