Überlaufende Kinderarztpraxen – das müsste eigentlich nicht sein

Volle Wartezimmer, keine freien Termine – Kinderarztpraxen haben es im Moment schwer. Woran das liegen könnte, weiß Dr. Martin Karsten.

Verunsicherung bedingt Versorgungsmangel der Kinder

Die Kinderarztpraxen sind derzeit völlig überfüllt. Keine Frage, dass das für alle Beteiligten schwierig ist, für das Praxispersonal und für die kleinen Patienten und ihre Eltern. Im allgemeinen Jammern und Stöhnen darüber werden die Ursachen aber etwas einseitig gesehen. Der Reflex ist, nach mehr Ärzten zu rufen. Und es wird die Angst verbreitet, dass es den Kindern – gerade jetzt nach der Covid-Pandemie – immer schlechter geht. Doch der Zusammenbruch der Gesundheitsversorgung steht meiner Meinung nach nicht bevor. Weder sind die Kinder kranker als früher, noch haben wir zu wenige Kinderärzte. Die Anzahl der Kinderärzte hat in Berlin in den letzten dreißig Jahren sogar zugenommen. Gleichzeitig ist die Anzahl der vorgeschriebenen Vorsorgen von acht auf zwölf gestiegen.

Der entscheidende Faktor im Gesamtgeschehen ist jedoch: Die Eltern kommen heute viel schneller und viel öfter in die Praxen –  auch mit Lappalien wie Husten, Schnupfen, Heiserkeit. Sie sind unsicherer und sie sind besorgter. Und es mangelt vielen an Bauchgefühl. Sie belesen sich im Internet, wenn ihr Kind hustet oder keinen Appetit hat oder auch nur gedämpfte Aktivität zeigt.

Was früher große Familien aufgefangen haben, mit Omas Wadenwickel und Gesundheitstipps, mit alten Hausmitteln, das gibt es kaum noch. Das Bewusstsein: Kinder dürfen auch mal fiebern, Kinder haben eben Infekte, ist verloren gegangen. Als es noch Masern, Tuberkulose, bakterielle Hirnhautentzündung gab, ging man nicht so häufig zum Kinderarzt, weil man Ansteckung fürchtete. Da sagte einem das Bauchgefühl, was ein kleiner Schnupfen ist und was wirklich behandelt werden muss. Und meistens kochte die Großmutter eine heiße Suppe und steckte das Kind ein paar Tage ins Bett. Heute soll lieber der Arzt nachgucken. Abhören und Beruhigen – darum geht es. Damit wird das Sicherheitsbedürfnis der Eltern befriedigt. Den Satz höre ich fünfzigmal am Tag: "Ich bin beruhigt, Herr Doktor, dass Sie mal drüber geguckt haben". Das freut mich ja auch. Aber ich habe durch das "Drübergucken" leider immer weniger Zeit für die ernsten Fälle, die wirklich medizinische Hilfe benötigen.

Eltern nehmen Infektionskrankheiten extrem ernst 

Natürlich empfinden Eltern einen Schnupfen bei ihrem acht Monate alten Baby als dramatisch – auch ohne Fieber. Andere kommen und sagen: "Mein Kind ist heute so komisch – vielleicht kriegt es einen Infekt". Auch das kostet wieder drei bis fünf Minuten. Und natürlich Empathie. Eltern wollen Klarheit, sie wollen eine klare Ansage. Sie begeben sich praktisch selbst in die Kinderrolle. Aber ich kenne ja die Familien, das klappt dann auch. Gut ist, dass Kinderärzte laut Herrn Lauterbach demnächst aus der Budgetierung herausfallen werden. Das ist richtig und zu begrüßen.

Das Ganze hat auch mit Corona zu tun. Infektionskrankheiten sind dadurch total in den Fokus geraten. Anfangs hatte man die Angst, dass Kinder sich vermehrt anstecken und das Virus verbreiten würden. Das hat sich als Irrtum herausgestellt. Es gab kaum schwere Verläufe bei Kindern und sie haben sich auch kaum infiziert. Aber im Bewusstsein blieb dennoch hängen, dass man Infektionskrankheiten bei Kindern extrem ernst nehmen soll. Und das hat die enorme Verunsicherung der Eltern weiter angeheizt. Hinzu kommt das Medienspektakel. Eine Welle nach der anderen wird gehypt. Corona, RSV, Influenza – und zuletzt auch noch Scharlach.

Letzteres ist besonders grotesk. Scharlach, seit 60 Jahren bekannt, bekommt auf einmal eine ganze Seite im Spiegel. Dabei ist es keine Krankheit, bei der mein Puls höher schlägt. Der Kinderarzt erkennt es, kann es gut behandeln. Und fertig. Komplikationen gibt es praktisch gar nicht mehr. Infektiologen sagen sogar, Scharlach muss man gar nicht in jedem Fall antibiotisch behandeln. Und bei leichten Verläufen müsste man auch nicht mehr unbedingt zum Arzt gehen.

Pflegenotstand: Betten sind da, aber Personal fehlt

Ein bisschen anders ist die Problematik in den Kliniken. Auch da sind die Ersthelfer mit Banalitäten überlastet. Und wir haben einen Pflegenotstand. Die Betten sind da, aber das Personal fehlt. Eine Kinderschwester darf nachts maximal drei Kinder betreuen. Darum sagen die Kinderkliniken mit 70, 80 Prozent Auslastung: wir sind voll. Dennoch muss der Medien-Alarm auch hier relativiert werden: Wenn von ungefähr 20 000 RSV-Fällen in Berlin 120 in den Kliniken liegen, ist das zunächst auch kein Drama. Aber hier ist der Druck der Medien wirklich mal sinnvoll. Der Pflegenotstand muss thematisiert werden, bis sich endlich etwas ändert. 

Psychische Gesundheit von Kinder leidet unter COVID-19

Was mir allerdings große Sorgen macht: Die psychischen Probleme der Kinder sind enorm gestiegen, gerade bei Kindern aus schlechten sozialen Verhältnissen. Kinder sind eindeutig die Verlierer durch die Corona-Maßnahmen. Deutlich zugenommen haben psychische Auffälligkeiten, psychosomatische Beschwerden, Essstörungen, Depressionen, ADS, funktionelle Einschränkungen. Das erfordert natürlich enormen Zeitaufwand. Und diese Dinge sind für unsere kleinen Patienten tatsächlich keine Lappalien.

Aber all diese Herausforderungen und Lasten haben überhaupt nichts daran geändert, dass mir mein Beruf immer noch extrem viel Spaß macht. Kinderarzt ist der tollste Beruf überhaupt. Man kann viel helfen, bekommt unendlich viel Anerkennung und Dank.

Dr. med. Martin Karsten

Dr. Karsten ist Facharzt für Kinderheilkunde und seit 1990 niedergelassen in einer pädiatrischen Gemeinschaftspraxis mit Dr. Evelyn Rugo und Dr. Matthias Wagner in Berlin-Wilmersdorf.