Komplette Farbenblindheit: Erste Gentherapie auf klinische Sicherheit erprobt

Eine von einem interdisziplinären Forschungsteam entwickelte Gentherapie zur Behandlung einer Form der kompletten Farbenblindheit hat sich als sicher und prinzipiell wirksam erwiesen.

Gesunde Version des CNGA3-Gens direkt in die Netzhaut der PatientInnen eingeschleust

Eine von NaturwissenschaftlerInnen und MedizinerInnen aus Tübingen und München entwickelte Gentherapie zur Behandlung einer Form der kompletten Farbenblindheit hat sich in einer klinischen Phase I/II-Studie am Universitätsklinikum Tübingen als sicher und prinzipiell wirksam erwiesen. Die erste Gentherapie einer erblichen Augenerkrankung in Deutschland soll bis zur Anwendungsreife weiter entwickelt werden.

Bei etwa einem Drittel der Achromatopsie-PatientInnen liegt der Defekt im CNGA3-Gen. Für diesen Gendefekt hat ein Team des Forschungsinstituts für Augenheilkunde des Universitätsklinikums Tübingen und der Departments für Pharmazie und Ophthalmologie der Ludwig-Maximilians-Universität München eine gentherapeutische Behandlung entwickelt. Bei der Gentherapie wird die gesunde Version des CNGA3-Gens über ein harmloses Virus direkt in die Netzhaut der PatientInnen eingeschleust. Nach einigen Wochen können die Netzhautzellen die gesunde Version des CNGA3-Gens nutzen und das entsprechende intakte Protein bilden, das die Funktion der defekten Zapfen wiederherstellen soll. Die dabei verwendeten Genfähren,  Adeno-assoziierte Viren, wurden an der Ludwig-Maximilians-Universität München von Professor Stylianos Michalakis und Professor Martin Biel entwickelt.

Noch bessere Behandlungserfolge in der Zukunft erwartet

An der Universitäts-Augenklinik Tübingen ist nun die erste klinische Studie zu dieser Therapie am Menschen abgeschlossen worden. Sie wird in der Fachzeitschrift JAMA Ophthalmology der American Medical Association veröffentlicht. In der Studie wurde in der Universitätsaugenklinik in Tübingen das jeweils schlechtere Auge von neun Achromatopsie-PatientInnen im Alter von 24 bis 59 Jahren operativ durch Injektion des gentherapeutischen Wirkstoffes unter die Netzhaut behandelt. "Die Probanden hatten in der Folge keine wirkstoffbezogenen Gesundheitsprobleme, und ihre Netzhaut wies keine dauerhaften Veränderungen auf", berichtet Professor Dominik Fischer, der Leiter der klinischen Studie. Das Hauptanliegen dieser ersten klinischen Studie sei damit erreicht, die Behandlung könne als sicher eingestuft werden. Auch bei der Wirksamkeit sei ein deutlich positiver Effekt zu verzeichnen. Die visuelle Funktion der PatientInnen habe sich etwas verbessert, sowohl bei der Sehschärfe als auch beim Kontrast- und Farbensehen.

"Die jetzt durchgeführte Studie ist ein wichtiger erster Schritt und Meilenstein hin zu einer kurativen Therapie der Achromatopsie, und wir erwarten noch bessere Behandlungserfolge in der Zukunft", sagt Professor Bernd Wissinger vom Tübinger Forschungsinstitut für Augenheilkunde, der gemeinsam mit Professor Martin Biel vom Department Pharmazie der Ludwig-Maximilians-Universität München das RD-CURE-Gesamtprojekt zur Entwicklung der Gentherapie bei erblichen Netzhauterkrankungen leitet.

Gentherapie für bestmögliche Wirkung bereits im Kindesalter durchführen

Aus Sicherheitsgründen waren die behandelten neun PatientInnen im Erwachsenenalter und wiesen damit eine bereits mehr oder minder stark vorgeschädigte Netzhaut auf. "Zudem verlieren die das Sehen verarbeitenden Anteile des Gehirns im Erwachsenenalter zunehmend an Plastizität", wie Professor Marius Ueffing, Direktor des Forschungsinstituts für Augenheilkunde, betont. "Da das Gehirn von Achromatopsie-Betroffenen nie gelernt hat, Farbsehen zu verarbeiten, ist diese Plastizität eine notwendige Voraussetzung dafür, die neugewonnene Farbsehfähigkeit der Netzhaut in einen echten Seheindruck umzusetzen." Da die Studie gezeigt hat, dass die Therapie sicher ist, könnte es daher in Zukunft angezeigt sein, Betroffene so früh zu behandeln, dass eine hohe Plastizität des Gehirns und eine noch nicht vorgeschädigte Netzhaut den Behandlungserfolg vergrößern können.

Nach Einschätzung der WissenschaftlerInnen sollte daher die neue Gentherapie analog zum kürzlich zugelassenen Gentherapiemedikament Luxturna bereits im Kindesalter durchgeführt werden, um die bestmögliche Wirkung zu entfalten. "Da sich die verwendeten Genvektoren als sicher erwiesen haben, ist eine Folgestudie an pädiatrischen CNGA3-Patienten möglich und sinnvoll", erläutert Professor Stylianos Michalakis vom Department für Augenheilkunde der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Quelle:
Fischer, M.D., Michalakis, S., et al.: Safety and Vision Outcomes of Subretinal Gene Therapy Targeting Cone Photoreceptors in Achromatopsia – A Nonrandomized Controlled Trial. JAMA Ophthalmology, https://dx.doi.org/10.1001/jamaophthalmol.2020.1032