Künstliche Intelligenz soll Versorgung von Schwerverletzten optimieren

Das Forschungsprojekt "Leitsystem zur Optimierung der Therapie traumatisierter Patienten bei der Erstbehandlung" (LOTTE) entwickelt sechs Musterszenarien für den Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) in der Behandlung von Schwerverletzten.

Künstliche Intelligenz kann Ressourcen sparen und Überlastungen verhindern

Sechs Musterszenarien für den Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) in der Behandlung von Schwerverletzten wurden im Rahmen des Forschungsprojektes "Leitsystem zur Optimierung der Therapie traumatisierter Patienten bei der Erstbehandlung" (LOTTE)  entwickelt, an der das Fraunhofer IAIS mit Partnereinrichtungen aus dem Gesundheitswesen und den Rechtswissenschaften arbeitet. Das Projekt wird vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG) gefördert und stellt die datengetriebene Entscheidungsunterstützung in den Mittelpunkt. In einem Whitepaper beleuchten WissenschaftlerInnen des Fraunhofer IAIS die Potenziale und Herausforderungen von KI im Krankenhaus.

Mehr als 2,6 Mio Verkehrsunfälle mit etwa 400.000 Verletzten und davon 68.000 Schwerverletzten werden laut IAIS pro Jahr in Deutschland verzeichnet. Hinzu kommen Schul-, Sport-, Arbeits- und Freizeit-Unfälle. Nach dem Rettungstransport werden lebensgefährlich Verletzte und "Polytrauma"-PatientInnen für die sofortige Behandlung in einen speziell eingerichteten Schockraum im Krankenhaus gebracht. Die Versorgung ist sehr komplex und der Zeitdruck enorm hoch. Hier könnte KI das Behandlungsteam durch Entscheidungsunterstützung und Datenanalyse bei lebensentscheidenden Maßnahmen helfen.

Einsatz von KI könnte während der Pandemie Überlastungen abfedern

"Gerade in Zeiten einer globalen Pandemie ergeben sich völlig neue Potenziale für Digitalisierung und Künstliche Intelligenz, um im Gesundheitswesen wertvolle Ressourcen zu sparen und Überlastungen abzufedern", sagt Dr. Jil Sander, Leiterin des Geschäftsfeldes Healthcare Analytics am Fraunhofer IAIS. "Durch die Verfügbarkeit und intelligente sowie datensichere Analyse von Gesundheits- und Lifestyle-Daten der PatientInnen können wir Kliniken und andere medizinische Einrichtungen bei Effizienz- und Qualitätssteigerung unterstützen."

Das Konjunkturpaket der Bundesregierung zur Bekämpfung der Corona-Folgen soll das Gesundheitswesen stärken und finanziert den "Pakt für den öffentlichen Gesundheitsdienst", das "Zukunftsprogramm Krankenhäuser" und weitere Programme mit mehr als sieben Milliarden Euro.

Interdisziplinäres Team ermittelt Potenziale und Herausforderungen

Hergang des Unfalls, Vitaldaten, Vorerkrankungen und Vormedikation, Bildgebungsdaten sowie Messgrößen medizintechnischer Geräte im Schockraum - diese Daten spielen bei der Frühversorgung von Schwerverletzten eine wichtige Rolle. Künstliche Intelligenz gewinnt aus diesen Datenmengen schnell wichtige Erkenntnisse, die bei der Behandlung helfen.

Um das Potenzial aber auch die Herausforderungen von KI in der Notfallversorgung bestmöglich zu ergründen, arbeitet das Fraunhofer IAIS mit interdisziplinären Fachleuten zusammen. Unter der Leitung des Lehrstuhls für Management und Innovation im Gesundheitswesen und des Lehrstuhls für Unfallchirurgie und Orthopädie der Universität Witten/Herdecke wirkten am LOTTE-Projekt ExpertInnen des Instituts für Rechtsinformatik an der Leibniz Universität Hannover mit. Das Team hat 49 mögliche Einsatzszenarien für Digitalisierung und den Einsatz von KI identifiziert. Sechs Szenarien haben ein besonders hohes bzw. relevantes Einsatzpotential und wurden detailiert analysiert.

Einsatzszenarien – hier kann Künstliche Intelligenz unterstützen

Bereits am Unfallort setzt die "Intelligente Alarmierungskette" ein. KI wandelt den Informationsfluss zwischen NotärztInnen, Leitstelle und den Fachkräften im Krankenhaus automatisch in Datensätze um. Der Informationsverlust zwischen Erstversorgung, Einlieferung und Behandlung im Schockraum wird so auf ein Minimum reduziert, die erhobenen Daten liefern frühzeitig Erkenntnisse für den Behandlungsprozess.

Eine lückenlose Überlieferung lebenswichtiger Informationen ist auch Ziel der "Semiautomatischen Sprachdokumentation", die im Einsatzszenario rund um die Einlieferung und Behandlung im Schockraum selbst eine große Rolle spielt. Die Übergabe durch das einliefernde notärztliche Team, meist mündlich vermittelt und selten in strukturierter Form festgehalten, kann durch ein KI-gestütztes Sprachsystem mit Mikrofonen im Schockraum digital aufgezeichnet und automatisch in ein strukturiertes Text-Protokoll umgewandelt werden. Das dient der internen Qualitätssicherung als auch dem Export in eine Registerdatenbank.

OP-Risiko einschätzen und bei Entscheidungen unterstützen

Ein weiteres Einsatzszenario ist die "Trajektorien-Klassifikation": Das behandelnde Team erhält bereits zu Beginn des Einsatzes im Schockraum einen Überblick über einen möglichen Gesamtverlauf ("Trajektorie") und kann frühzeitig informierte Entscheidungen treffen. Das System berechnet eine objektive und quantitative Einschätzung der Fallkomplexität und des erwarteten Verlaufs. Das Ergebnis wird digital visualisiert zur Verfügung gestellt und das behandelnde Team kann auf Basis der individuellen Erfahrung die vorgeschlagene Behandlungsstrategie anpassen.

Das Risiko ist groß, dass Schwerverletzte wegen Komplikationen bei Operationen versterben. Im Szenario "OP-Risikoabschätzung" berechnet das System aus den zur Verfügung stehenden Klinikdaten und den PatientInnen-Daten das individuelle Komplikationsrisiko.

Absicherung für einen rechtlich und ethisch sicheren Einsatz von KI

"Besonders im Gesundheitswesen ist es von erheblicher Bedeutung, dass das Fachpersonal Vorschläge von KI-Systemen zur Behandlung von PatientInnen zukünftig verstehen und nachvollziehen kann. Nur so kann Vertrauen geschaffen und langfristig eine Integration in den Arbeitsalltag ermöglicht werden. Daher denken wir diese Herausforderungen in jedem Schritt unserer Arbeiten mit", erklärt Sander. "Allerdings müssen ethische und rechtliche Fragestellungen vorab geklärt sein."

So müssen "Bias" vermieden werden, die durch nicht repräsentative Trainingsdaten entstehen können. Für bestimmte Bevölkerungsgruppen könnten aufgrund von Hautfarbe, Alter oder Geschlecht, verzerrende Ergebnisse geliefert werden. Für rechtliche Fragestellungen, etwa hinsichtlich Verantwortung und Entscheidungsgewalt beim Einsatz von Künstlicher Intelligenz, entwickelt das Fraunhofer IAIS im Rahmen der Kompetenzplattform KI. NRW mit einem interdisziplinären Team und mit Beteiligung des Bundesamts für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) einen Prüfkatalog.