Lockdown verschlechtert Krankheitsverlauf und Versorgung von psychisch Erkrankten

Für die Hälfte der Menschen mit einer Depression ist der Lockdown mehr als eine Herausforderung. Nicht mal jede fünfte Patientin oder jeder fünfte Patient bekommt derzeit einen Behandlungstermin.

Sondererhebung des Deutschland-Barometer Depression

Bei fast der Hälfte der Patienten verschlechtert sich Depression bis hin zu Suizidversuchen – mehr als jeder fünfte Patient bekommt keinen Behandlungstermin – auch Allgemeinbevölkerung so belastet wie nie zuvor in der Pandemie

Die Corona-Maßnahmen führen zu massiven Einschnitten in der Versorgung psychisch erkrankter Menschen und zu einer wegbrechenden Alltagsstruktur, die für diese PatientInnen besonders wichtig ist. Aktuell berichten 44% der Menschen mit diagnostizierter Depression von einer Verschlechterung ihres Krankheitsverlaufs in den letzten 6 Monaten bis hin zu Suizidversuchen.

Auch für die Allgemeinbevölkerung ohne psychische Erkrankung ist die Situation aktuell deutlich belastender als im 1. Lockdown. Immer mehr ziehen sich zurück, die Sorgen um die berufliche Zukunft und die familiäre Belastung nehmen zu. Das zeigt eine heute veröffentlichte Sondererhebung des "Deutschland-Barometer Depression" – eine jährliche, repräsentative Bevölkerungsumfrage zu Depression, die 2017 von Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Deutsche Bahn Stiftung initiiert wurde. Befragt wurden 5.135 Personen zwischen 18 und 69 Jahren aus einem repräsentativen Online-Panel im Februar 2021.

Schlechtere Versorgung von Patienten mit psychischen Erkrankungen

Die Corona-Maßnahmen führen zu massiven Einschnitten in der Versorgung psychisch erkrankter Menschen: 22% der Befragten in einer depressiven Phase berichten von ausgefallenen Facharzt-Terminen in den letzten sechs Monaten (September 2020 – Februar 2021), bei 18% fiel ein Termin beim Psychotherapeuten aus. 21% der Betroffenen geben an, von sich aus Behandlungstermine aus Angst vor Ansteckung abgesagt zu haben (+8 Prozentpunkte im Vergleich zum 1. Lockdown). Die schon vor der Pandemie angespannte Versorgungslage psychisch erkrankter Menschen hat sich weiter verschärft: 22% der Menschen in einer akuten depressiven Krankheitsphase geben an, keinen Behandlungstermin zu bekommen. Im 1. Lockdown waren es 17%.

Fehlende Tagesstruktur und zu lange Bettzeit begünstigen Depression

Für Menschen, die sich gerade in einer depressiven Krankheitsphase befinden, hat der 2. Lockdown besonders negative Auswirkungen. Fast alle berichten über fehlende soziale Kontakte (89%, +15 Prozentpunkte seit dem 1. Lockdown), Bewegungsmangel (87%, +7 Prozentpunkte) oder verlängerte Bettzeiten (64%, + 9 Prozentpunkte). "Für Depressionspatienten sind Bewegung, ein geregelter Tagesablauf und ein fester Schlaf-Wachrhythmus wichtige unterstützende Bausteine in der Behandlung. Wenn diese wegbrechen, kann das den Krankheitsverlauf der Depression negativ beeinflussen", erläutert Prof. Ulrich Hegerl, Vorstandsvorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Inhaber der Senckenberg-Professur an der Goethe-Universität Frankfurt/Main.

Lockdown führt zu Rückfällen bis hin zu Suizidversuchen

Insgesamt 44% der Befragten mit diagnostizierter Depression geben an, dass sich Corona-bedingt ihre Erkrankung in den letzten 6 Monaten verschlechtert habe. Jeweils 16% der depressiv Erkrankten berichten von einem Rückfall oder einer Verschlechterung der depressiven Symptomatik. 8% hatten Suizidgedanken oder suizidale Impulse. Unter den Befragten mit diagnostizierter oder selbst-diagnostizierter Depression (N = 1.994) berichten sogar 13 Personen, im letzten halben Jahr einen Suizidversuch unternommen zu haben.

Hochgerechnet auf die Gesamtbevölkerung würde das allein für diese Gruppe Betroffener circa 140.000 Suizidversuche innerhalb eines halben Jahres ergeben. "Die Maßnahmen gegen Corona führen zu Versorgungsdefiziten und depressions-spezifischen Belastungen, die gravierende gesundheitliche Nachteile für die 5,3 Millionen Menschen mit Depression in Deutschland bedeuten. Besonders die Zahl der Suizidversuche bereitet mir Sorge. Es ist dringend notwendig, bei der Entscheidung über Maßnahmen gegen Corona den Blick nicht nur auf das Infektionsgeschehen zu verengen. Es müssen auch Leid und Tod systematisch erfasst werden, die durch die Maßnahmen verursacht werden", so Hegerl. Eine systematische, repräsentative Erhebung der Suizidversuche wäre hier ein Baustein.

Psychische Belastungen der Deutschen steigen im Vergleich zum 1. Lockdown

Auch für die Allgemeinbevölkerung ist die Situation belastender als je zuvor: 71% der Bundesbürger empfinden die Situation im 2. Lockdown bedrückend. Im 1. Lockdown waren es 59%, im Sommer 2020 sogar nur 36% der Bundesbürger. Fast die Hälfte (46%) der Deutschen erlebt seine Mitmenschen als rücksichtsloser (im 1. Lockdown 40%). Jeder dritte hat Sorgen um seine berufliche Zukunft. Familiär stark belastet fühlen sich im Februar 2021 25% der Befragten, im Sommer 2020 waren es nur 16%.