Migräne, (k)ein reines Frauenthema

Sie hat Migräne und er Spannungskopf- oder Clusterkopfschmerzen: Solche diagnostischen Schnellschüsse machen auch vor der Neurologie nicht Halt. Häufungen bei Männern oder Frauen sind bekannt, sollten aber nicht zum diagnostischen Kriterium werden, warnt eine Expertin.

Gender-Klischees bei Kopfschmerzen führen zu Fehldiagnosen

Sie hat Migräne und er Spannungskopf- oder Clusterkopfschmerzen: Solche diagnostischen Schnellschüsse machen auch vor der Neurologie nicht Halt. Häufungen bei Männern oder Frauen sind bekannt, sollten aber nicht zum diagnostischen Kriterium werden, warnt eine Expertin. 

"Das schlimmste, was einem Macho passieren kann, ist eine Migräne", schrieb das Nachrichtenmagazin "Focus" vor mehreren Jahren. Das bestätigt auch Prof. Dr. Dagny Holle-Lee, Leiterin des Kopfschmerz- und Schwindelzentrums am Universitätsklinikum Essen: "Männer bekommen häufiger Spannungskopfschmerz als Diagnose, obwohl dies nicht zutrifft." Sie warnt: "Migräne darf nicht einfach anhand des Geschlechts diagnostiziert werden!"

Leiden Frauen anders als Männer?

Genau das scheint aber zu passieren, wie die Neurologin berichtet. ÄrztInnen verordnen Frauen häufiger als Männern eine Akutmedikation zur Migräne-Therapie. Und Patientinnen verwenden öfter OTC- oder Rx-Triptane. Auch erhalten sie eher Arzneistoffe zur Migräneprophylaxe, wie in den Leitlinien empfohlen. Männer wiederum stellen sich seltener in Arztpraxen mit Kopfschmerzen vor. Sie verwenden eher unspezifische, nicht verschreibungspflichtige Analgetika aus der Apotheke. Doch leiden die Geschlechter auf unterschiedliche Art und Weise?

"Frauen geben an, stärker durch Kopfschmerzen beeinträchtigt zu sein und häufiger soziale Events zu verpassen, verglichen mit Männern", berichtet Dagny. Basis sind Erhebungen von Symptomen anhand des Migraine Disability Assessment Score (MIDAS). "Möglicherweise werden hier eher typische Aktivitäten von Frauen abgefragt", gibt die Expertin zu bedenken. Sie kann an dieser Stelle einen methodischen Bias jedenfalls nicht ausschließen.

Dagegen sprechen weitere Erhebungen: Bei Frauen scheint sich Migräne anders zu präsentieren. Sie haben häufigere, länger andauernde Episoden mit stärkerer Neigung zur Chronifizierung. Und die typischen Symptome, sprich Übelkeit, Photo- und Phonophobie sind stärker ausgeprägt als bei Männern. Auch Allodynien stellen bei Patientinnen größere Probleme dar. Hinzu kommt: Frauen leiden eher an psychiatrischen und Männer eher an somatischen Komorbiditäten. Auch hier bleibt unklar, ob es sich um Fakten oder um Verhaltensmuster handelt.

Migräne – eine Frage des Alters

Dagny warnt jedenfalls davor, Migräne als Krankheit zu bewerten, die fast ausschließlich Frauen betrifft. Dazu ein paar epidemiologische Daten: Jungen und Mädchen haben bis zur Pubertät ähnlich häufig mit dieser Kopfschmerzart zu tun. Zwischen dem 7.und dem 9. Lebensjahr sind etwa 2,5% betroffen. Erst ab dem 12. Lebensjahr zeigen sich stärkere Unterschiede, die zwischen 30 und 39 Jahren ihr Maximum erreichen. Dann quälen sich knapp 25% aller Frauen mit Migräne, während es bei Männern nur 7% sind. Ab dem 40. Geburtstag beginnen sich die Unterschiede wieder anzugleichen – und erreichen bei Frauen und Männern über 60 wieder annähernd ähnliche Werte. Dagny erklärt dies vorrangig mit hormonellen Schwankungen bei Frauen, von der Menarche bis zur Menopause. Doch seien eben auch Männer betroffen.

Die Neurologin zieht daraus den Schluss, es sei gefährlich, anhand des Geschlechts Rückschlüsse auf die Erkrankung zu ziehen. Dass sie standardmäßig Migräne und er Spannungskopfschmerz oder Clusterkopfschmerz habe, funktioniere so nicht.

Diagnostik auf die Schnelle

Ihr Tipp an alle ÄrztInnen nach Abschluss der neurologischen Basisdiagnostik: Für Migräne sprechen…

In der Kopfschmerzdauer sieht Dagny ein gutes Kriterium zur Differenzialdiagnostik:

"Eine Männermigräne kann in der Praxis zwar anders aussehen als eine Frauenmigräne", fasst Dagny zusammen. "Trotzdem erfolgen Diagnosen immer anhand der Klinik und nicht anhand des Geschlechts." Ähnlich sei die Thematik beim Clusterkopfschmerz: einer "typisch männlichen Form, unter der aber auch Frauen leiden".

Quelle:
92. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Neurologie: Symposium "Gender-Aspekte in der Neurologie", 25.09.2019