Neue S1-Migräne-Leitlinie soll Versorgungsrealität verbessern

Bislang gab es eine geringe Leitlinien-Adhärenz bei Patienten mit episodischen und chronischen Migräne-Attacken. Schafft die neue S1-Migräne-Leitlinie Abhilfe?

Akuttherapie der Migräne 

Bei der Standard-Akuttherapie hat sich am Vorgehen nichts geändert. Weiterhin stehen zur Verfügung: 

Frei verkäufliche Triptane 

Bei den Triptanen bei (mittel)schweren Migräneattacken und bei fehlendem Ansprechen auf Schmerzmittel gibt es einige Neuigkeiten im Umgang mit den Mitteln.

Sieben Triptane sind weiterhin zugelassen, wenn der Patient zwei oder drei der Standardmedikamente rechtzeitig und in ausreichender Dosierung hatte und damit nicht zurechtkam: Sumatriptan, Eletriptan, Rizatriptan, Zolmitriptan, Almotriptan, Naratriptan, Frovatriptan. Neu ist hier Sumatriptan als 3-mg-Injektion. Die Nebenwirkungsrate geht hier gegenüber der bisher üblichen 6mg-Dosierung deutlich zurück. Bei fehlender Wirksamkeit bzw. Wiederkehr der Schmerzen nach einigen Stunden wird eine Kombination aus Triptan und Naproxen empfohlen. Bei ausgeprägter Übelkeit werden Medikamente subkutan verabreicht. Eine Alternative ist Zolmitriptan als Nasenspray. Frei verkäuflich sind nun auch 50mg Sumatriptan.

Neue Substanzen erweitern Therapiemöglichkeiten

Zwei Substanzen sind seit Herbst 2022 neu zugelassen, aber aktuell in der Apotheke noch nicht zur Verfügung: Rimegepant 75 mg als Schmelztablette und Lasmiditan 50 mg/100mg/200mg. Die beiden Substanzen sollen in der ersten Jahreshälfte verfügbar sein. Sie sollen dann eingesetzt werden, wenn Patienten weder auf Analgetika noch auch Triptane ansprechen, bzw. Kontraindikationen haben.

Rimegepant ist ein CGRP-Rezeptorantagonist, Lasmiditan, ein Serotonin-1F-Rezeptorantagonist, beide zeigen sich klar wirksamer als Placebo, Vergleichsstudien mit Triptanen liegen nicht vor. Vergleiche mit ausgewählten Triptanen (Eletriptan, Sumatriptan) zeigen eine gleichwertige Wirksamkeit nach zwei Stunden. Die Verträglichkeit von Rimegepant ist gut. Lasmiditab kann zu Nebenwirkungen wie Müdigkeit und Schwindel führen, bis acht Stunden nach Einnahme sollen kein Kraftfahrzeug geführt und keine Maschinen bedient werden. 

Neue Substanzen zur Migräneprophylaxe 

Neuer Zugang in der Leitlinie ist, dass nicht mehr nur die Migränetage gezählt werden, um die Notwendigkeit einer Prophylaxe zu definieren. Jetzt soll der Patient das individuell mit dem Arzt besprechen. Kriterien sind auch der Leidensdruck, die Einschränkung der Lebensqualität, das Risiko eines Medikamentenübergebrauchs. Als Zielparameter gilt bei chronischer Migräne eine Besserung um 30 %. In den ersten 4 bis 12 Wochen soll beurteilt werden, ob die Prophylaxe wirkt. 

Medikamente mit hoher Evidenz sind nach wie vor Betablocker (Propranolol, Metoprolol, Bisoprolol), Flunarizin, Topiramat, Amitriptylin, sowie Onabotulinumtoxin (bei chronischer Migräne). 

Monoklonale Antikörper wirken deutlich schneller und haben weniger Neben- und Wechselwirkungen: Zugelassen sind Eptinezumab, Erenumab, Fremanezumab, Galcanezumab. In der Leitlinie spiegeln sich die Vorteile wie schnelles Ansprechen und gute Wirkung auch bei therapierefraktären Patienten. 

Antikörper werden früher zugänglich

Zugelassen sind alle vier monoklonalen Antikörper ab vier Migränetagen im Monat. Neu im Verordnungsalgorithmus: Die herkömmlichen Prophylaxen müssen vor Verordnung von Fremanezumab und Galcanezumab zunächst durchprobiert werden, es sei denn, dass Kontraindikationen vorliegen. Während Erenumab im Ergebnis der Hermes-Studie bei nur einer Vortherapie im Rahmen einer Praxisbesonderheit verordnet werden kann.

Eine Besonderheit sind Gepante: Zugelassen für Akuttherapie und Prophylaxe. Rimegepant (derzeit noch nicht erhältlich) ist zugelassen für die Akuttherapie der Migräne mit und ohne Aura für Erwachsene, sowie Prophylaxe der episodischen Migräne bei Erwachsenen ab 4 Migränetagen. Die Verträglichkeit ist recht gut. Gepante scheinen im Vergleich zu den Triptanen unkritischer bezüglich eines Übergebrauchs. 

Die Leitlinie gibt Empfehlungen für spezielle Therapiesituationen, wie etwa Schwangerschaft, menstruelle Migräne und Migräne bei Kindern und Jugendlichen sowie zu Komorbiditäten wie Depression und Angststörungen, sowie Epilepsie und vaskuläre Erkrankungen. Erstmals werden auch interventionelle Verfahren vorgestellt.

Individualisierung der medikamentösen Migräneprophylaxe 

Zehn bis zwanzig Prozent der Migränepatienten sind schwer von ihrer Erkrankung beeinträchtigt. Patienten mit sehr hohem Leidensdruck sollten eine Migräneprophylaxe erhalten. Ein Kriterium ist weiter die Häufigkeit der Attacken: ab vier Tagen pro Monat oder die hochfrequente Migräne mit acht Tagen oder mehr im Monat. Auch schwere Aurasymptome wie Sehstörungen gelten als Begründung für eine Prophylaxe. Das gilt auch für Patienten, die auf Akut-Therapien nicht gut oder gar nicht ansprechen. Auch die Gefahr des Übergebrauchs von Analgetika und damit einer Chronifizierung ist ein Anlass, zu einer medikamentösen Migräneprophylaxe zu greifen.

Eine nicht konsequente Akuttherapie oder eine halbherzige Prophylaxe begünstigen die Entstehung einer Chronifizierung. Risikofaktoren sind psychische Komorbiditäten sowie weitere Schmerzerkrankungen. Auch ungünstige soziale Bedingungen und Verhaltensmuster sind im Verlauf der Therapie zu berücksichtigen. Für die empfohlene Therapiedauer der Prohylaxe gibt es wenige wissenschaftliche Daten. Eine Expertengruppe aus DMKG, der österreichischen und schweizerischen Kopfschmerzgesellschaften, der DGN und dem Bundesverband der Neurologen und Nervenärzte in Deutschland hat alltagsrelevante Fragen bearbeitet. 

Wie lange sollte eine medikamentöse Migräneprophylaxe erfolgen?

Laut Konsensus-Statement der Expertengruppe: 

Smartphone-Applications unterstützen die Kontrolle des Verlaufs. Die Prophylaxedauer richtet sich auch nach der Anzahl der Migränetage pro Monate und nach der Dauer der Erkrankung, sowie Begleiterkrankungen. 

Signifikante Reduktion der Migränehäufigkeit durch Prophylaxe

Bei unter acht Migränetagen wird eine mindestens 50-prozentige Reduktion als signifikant betrachtet. Bei hochfrequenter und chronischer Migräne gilt laut Expertengruppe bereits eine Reduktion um 30 Prozent als erfolgreich.

Nichtmedikamentöse Therapien: Neuheiten und Wirksamkeit 

Nichtmedikamentöse Therapien sind die zweite Säule der Migränetherapie, ein Therapiebaustein, der häufig vergessen wird, aber unverzichtbar ist. Nicht jeder braucht oder will eine medikamentöse Therapie, möchte aber seine Migränetage reduzieren und selbst etwas dafür tun. Das Zusammenwirken von medikamentöser und nichtmedikamentöser Therapie hat sich vielfach als wirksamer erwiesen als die rein medikamentöse Therapie. Vorteil der nichtmedikamentösen Therapie: Sie hat keine Nebenwirkungen. Der Patient erlebt Autonomie und übernimmt selbst Verantwortung. 

Nichtmedikamentöse Therapie in der Leitlinie

Gerade bei Medikamentenfehl- oder Übergebrauch bietet sich die nichtmedikamentöse Therapie an. Genau wie für Patienten mit schweren psychischen oder somatischen Begleiterkrankungen. Patienten sollen ins Leben zurückkommen, sollen Kraft finden, mit der Krankheit umzugehen.

Elektrisches Stimulationsverfahren

Ein Gerät zur Nervenstimulation wird in der Akutphase auf die Stirn geklebt – nach zwei Stunden waren 25 Prozent der Patienten schmerzfrei. Das Verfahren ist auch vorbeugend täglich über 20 Minuten einsetzbar, es zeigt sich ein Rückgang der Attackenfrequenz von zwei Tagen. Das Verfahren wird bisher nicht von den Kassen übernommen.

Zur Akupunktur liegen nicht gut vergleichbare Studien mit uneinheitlichen Ergebnissen vor. Die Effekte sind moderat und unspezifisch.

Diverse Apps sind noch nicht genügend untersucht, aber Kopfschmerzkalender sind gute Instrumente. Patienten lernen, auf Begleitsymptome zu achten und darüber zu berichten, das zeigt Verlauf und Erfolg der Therapie. Apps übernehmen Aufklärungsarbeit, wo Patienten der Zugang zum Arzt fehlt.

Was ist nicht zu empfehlen?

Die invasive Neurostimulation von bestimmten Nerven, bei der Elektroden unter die Kopfhaut implantiert werden, empfiehlt die Leitlinie aufgrund von Komplikationen nicht mehr. Durchschneidungen von bestimmtem Muskelgewebe im Gesicht sind nicht wirksam und abzulehnen. Auch Berichte, wonach Piercing helfen soll, lehnt die Leitlinie ab. Herzoperationen, Homöopathie, Probiotika, sowie bestimmte Diäten sind laut Leitlinie ebenfalls nicht zu empfehlen.

Mehr zum Thema Migräne, Kopfschmerz, Cluster & Co. finden Sie in unserem Infocenter "Kopfschmerz erkennen und behandeln".

Quelle:

Online-Pressekonferenz "Migräne: Bessere Behandlung, individuelle Prophylaxe – die neue S1-Leitlinie steht"; 11.01.2023, 14 Uhr