Orphan Drugs: Riskante Pläne der EU

Das Ausmaß der Marktexklusivität von Orphan Drugs soll sich am unmet medical need ausrichten und in der Tendenz verringert werden.

EU-Kommission stellt Regelwerk für Orphan Drug Regulation auf den Prüfstand

Mehr als 20 Jahre nach dem Inkrafttreten der Orphan Drug Regulation für Europa hat die EU-Kommission das Regelwerk auf den Prüfstand gestellt und plant eine Novellierung. Noch liegt ein ausformulierter Vorschlag der Kommission nicht vor – aber in Umrissen wird die Zielsetzung bereits deutlich – und die könnten für die Hersteller von Orphan Drugs nach Auffassung von Dr. Alexander Natz, Geschäftsführer  der European Confederation of Pharmaceutical Entrepreneurs (EUCOPE), brisant sein, weil sie auf das Kernelement der EU-Orphan Drug Regulation zielen: die Marktexklusivität. Auf einem Webinar des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie (BPI) analysierten er und weitere Experten für seltene Erkrankungen die möglichen Auswirkungen, auch in Kombinationen mit den geplanten Eingriffen in den AMNOG-Prozess für Orphan Drugs.

Unstrittig war die Einführung eines neuen Rechtsrahmens für Arzneimittel gegen seltene Erkrankungen seit dem Jahr 2000 ein beachtlicher Erfolg. Bis dahin waren in der EU nur sehr wenige Orphan Drugs zugelassen und eingeführt worden, Vorreiter waren die USA, die bereits 1983 besondere Zulassungs- und Vermarktungsregelungen für Orphan Drugs geschaffen hatten. Ab dem Jahr 2000 beschleunigten sich in Europa Forschungsanstrengungen und Zulassungen beträchtlich. Bis jetzt wurden insgesamt 208 Arzneimittel als Orphan Drugs zugelassen, 138 davon haben aktuell noch einen gültigen Orphan-Status. In den letzten Jahren hat sich der Anteil der Neuzulassungen von Orphan Drugs bei etwa einem Drittel aller neu zugelassenen Wirkstoffe stabilisiert.

Marktexklusivität ist keine hinreichende Bedingung für Zugänglichkeit der Medikamente

Das Kernelement der Orphan Drug Regulation von 2000 ist die Gewährung einer Marktexklusivität von zehn Jahren in der zugelassenen Indikation. Sie soll dem Hersteller während der Marktexklusivität die Chance geben, bei einem insgesamt geringen Marktvolumen aufgrund der Seltenheit der Krankheit einen Umsatz zu erzielen, der die Refinanzierung von Forschungs- und Vermarktungskosten erlaubt. 

Die Marktexklusivität, die für die spezielle Zulassung zur Behandlung von Kindern noch erweitert werden kann, war die wichtigste Voraussetzung dafür, dass die Erforschung und Entwicklung von neuen Arzneimitteln gegen seltene Krankheiten intensiviert wurde. Gegenwärtig haben international 2.400 Wirkstoffe einen anerkannten Orphan-Drug-Status – und das eröffnet die Aussicht darauf, dass ein erheblicher Anteil der insgesamt rund 8.000  der bislang bekannten seltenen Krankheiten in Zukunft behandelbar werden könnte.

Aber: Die Marktexklusivität ist noch keine hinreichende Bedingung dafür, dass diese in der Regel hochpreisigen Arzneimittel den Patienten auch tatsächlich zugänglich sind. De facto  ist dies nur in Deutschland, Dänemark, Italien, Österreich und Frankreich, wo zwischen 95 und 80 Prozent der zugelassenen Orphan Drugs Leistungsbestandteil im nationalen Gesundheitssystem sind. Im EU-Durchschnitt sind weniger als 40 Prozent der Orphans verfügbar, das Schlusslicht bilden die osteuropäischen Staaten. Ferner existiert ein eindeutiger Zusammenhang zwischen Einwohnerzahl und Orphan-Verfügbarkeit, so dass auch in wohlhabenden kleinen Ländern wie Luxemburg und Island weniger als ein Drittel der zugelassenen Orphans verfügbar sind. Ganz am Ende stehen Malta, Estland, Lettland und Litauen.

Das EU-Ziel: Verfügbarkeit für Patienten erhöhen

Das erklärte Ziel der EU-Kommission sei es, so Natz, eine möglichst flächendeckende Verfügbarkeit von Orphan Drugs in der EU herzustellen. Erreicht werden soll dies dadurch, dass für die Marktexklusivität ein gestuftes Modell geschaffen werden soll. Brisant sei dies für die betroffenen Hersteller, weil es keine Erweiterung, sondern nur eine Absenkung der Exklusivität zwischen fünf und maximal zehn Jahren geben soll. Das Ausmaß an Exklusivität soll sich nach dem Grad der Dringlichkeit des unmet medical need richten. Die Herausforderung dabei sei, dies auf der Ebene eines Wirkstoffes und der Indikation für eine ganze Gruppe von Patienten zu definieren und in verschiedenen Stufen rechtssicher umzusetzen. Die Heranziehung von Kriterien, die das Bundesverfassungsgericht mit seinem "Nikolaus-Urteil" (1 BvR 347/98 vom 6.12.2005) geschaffen habe, seien dafür nicht geeignet, weil sie nur die Beurteilung eines patientenbezogenen Einzelfalls ermöglichen.    

Weitere Probleme treten hinzu, die die Zielerreichung der Kommissionsvorstellungen erschweren: Vor allem in kleinen Ländern sind die Patientenpopulationen so klein, dass es für die Unternehmen  schwierig ist, Vertriebsstrukturen aufzubauen. Außerdem sind die HTA-Institutionen zur Bewertung solcher Arzneimittel nur rudimentär vorhanden. Vor allem aber  liegt die Entscheidungskompetenz für die jeweils nationalen Krankenversicherungssysteme bei den Mitgliedsstaaten und nicht bei der EU.  

Kumulative Verschärfung durch das GKVFinG

In Zusammenhang mit der geplanten EU-Novellierung und dem unmittelbar bevorstehenden Gesetzgebungsverfahren für das GKVFinG befürchten Natz, Dr. Matthias Wilken vom BPI und Matthias Heck von Alexion Pharmaceuticals eine kumulative Verschlechterung der Bedingungen für Orphan Drugs. Als Kostendämpfungsmaßnehmen sind geplant: die Absenkung der Umsatzgrenze, ab der im AMNOG-Verfahren der Zusatznutzen erbracht werden muss, von 50 auf 20 Millionen Euro;  bei nicht anerkanntem Zusatznutzen sollen restriktivere Bestimmungen für den Erstattungsbetrag gelten; ferner greift ein fünfprozentiger  Abschlag als "Solidarbeitrag" der Industrie. Das Petitum der Industrievertreter: Die geplanten Verschärfungen für Orphan Drugs aus dem GKVFinG herauszunehmen und auf einen Zeitpunkt zu verschieben, zu dem sich Klarheit über neue EU-Rahmenbedingungen gebildet hat. Zumindest in der FDP-Fraktion scheint dafür Sensibilität vorhanden zu sein: Im Rahmen der parlamentarischen Beratungen werde das ernst genommen, versicherte Professor Andrew Ullmann, FDP-Mitglied im Gesundheitsausschuss des Bundestages. Das Ergebnis ist aus seiner Sicht noch offen.

Weitere Aspekte und Fragen der geplanten EU-Novellierung  könnten sein: